Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
einfließen lassen, zum Beispiel mit Gewissheit die drei baltischen Republiken, aber auch Weißrussland, die Ukraine; bei der russischen Republik bleibt die Frage, ob bis nach Kamtschatka; ich weiß sie nicht zu beantworten. Schon bei den transkaukasischen Republiken kommen uns wahrscheinlich Zweifel, ob wir sie einschließen sollen, also Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Zweifel erst recht bei den zentralasiatischen muslimischen Republiken wie Kasachstan, Kirgisien, Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan. Darüber hinaus kann man sich fragen, ob wir gegenwärtig Albanien oder Rumänien oder die Türkei in einen politischen Europa-Begriff einschließen können, ganz zu schweigen von den sechs Republiken plus zwei autonomen Gebieten des gegenwärtigen Staates Jugoslawien. Die jugoslawische Situation ist teilweise mit der Lage in der Sowjetunion vergleichbar, denn es handelt sich in beiden Fällen um den Zusammenbruch eines kommunistischen Regimes, um starke zentrifugale Kräfte plus der Gefahr einer Ausbreitung von Bürgerkriegen. Ich muss also meinen Ausführungen vorwegschicken, dass ich nicht von einem zukünftigen Europa als von einer Wesenseinheit sprechen kann. Stattdessen werde ich über verschiedene heute vorhandene Staaten oder Gruppen einige Bemerkungen machen.
Meine zweite Vorbemerkung bezieht sich auf Deutschland. Ich möchte nämlich schon vorweg daran erinnern, dass in der Vorstellung fast aller unserer näheren und weiteren Nachbarn das größer gewordene Deutschland eingebunden sein soll sowohl in die Europäische Gemeinschaft als auch in die Atlantische Allianz. Wer über die zukünftige »Rolle« unseres Staates nachdenkt, inzwischen ein Nationalstaat von nahezu achtzig Millionen Menschen – zum Vergleich: Großbritannien weniger als sechzig Millionen, Frankreich ebenfalls weniger als sechzig Millionen, auch Italien unter sechzig Millionen, Polen unter vierzig Millionen –, der darf um Gottes willen nicht vergessen, dass unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft wie auch in der Allianz in der Vorstellung unserer Nachbarn immer zwei Ziele zugleich hatte: zum einen die Sicherung vor sowjetischem Imperialismus und vor kommunistischer Verführung und zum anderen Sicherung vor Deutschland selbst. Sie finden das Letztere am klarsten ausgedrückt in Winston Churchills Rede in Zürich im Jahre 1946 . Weil er ein Brite war, hat er schon damals Großbritannien ausgenommen aus den Vereinigten Staaten von Europa. Heute möchte niemand unter unseren Nachbarn – weder Frankreich noch Großbritannien, weder Holland noch Polen oder die Tschechoslowakei – dieses zweite Ziel der Sicherung vor Deutschland aufgeben, auch wenn dies in den Reden der Ministerpräsidenten und Staatspräsidenten öffentlich nicht angedeutet wird. Dieses Ziel der Sicherung vor Deutschland erscheint vielen unserer Nachbarn heute, nachdem Deutschland so groß geworden ist, sogar noch wichtiger als damals zu Beginn der fünfziger Jahre, also zu einer Zeit, wo die damalige Bundesrepublik noch nicht einmal fünfzig Millionen Menschen umfasste.
Wer über die Rolle Deutschlands nachdenkt, der darf nie vergessen, dass die Franzosen und die Polen unsere wichtigsten Nachbarn sind und es auch bleiben werden – kraft Geschichte und kraft Geographie.
Unser so unklar umschriebenes Europa wird gegenwärtig mit einem Katarakt von Ereignissen konfrontiert, die sich aus der Implosion, aus der Schwäche der Sowjetunion und aus dem Kollaps des europäischen Kommunismus ergeben.
Dieser Katarakt der Ereignisse hat alle europäischen Führungseliten unvorbereitet getroffen. Einige haben richtig und schnell gehandelt. So hat Bundeskanzler Helmut Kohl im Frühjahr 1990 die Chance zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten erkannt und genutzt. Das ist ein großes Verdienst. Leider sind dann aber seit dem Juli des vorigen Sommers viele und sehr große Fehler gemacht worden. Man musste vorhersehen und wissen, dass die Industrie in der DDR – ebenso wie die Industrie in Prag oder Pilsen oder in Krakau – ihre sowjetischen und anderen COMECON -Kunden verlieren würde, dass aber darüber hinaus die Industrie der DDR auch ihre einheimischen Kunden verlieren würde. Dieses alles war vorherzusehen. Jeder von uns wusste, was ein Trabant wert war, nämlich weniger als ein gebrauchter Volkswagen, der schon drei oder vier Jahre alt war. Infolgedessen konnte nach der Währungs- und Marktunion kein Trabant mehr verkauft werden, infolgedessen
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