Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Standpunkt gestellt, die Souveränität Jugoslawiens dürfe nicht angetastet werden. Was darf aber alles passieren, ehe sich die moralische Überzeugung durchsetzt, dass die Souveränität eines Staates keinen unbedingten Vorrang hat vor dem Selbstbestimmungsrecht, vor dem Menschenrecht, vor dem Schutz von Menschenleben?
Ich will noch eine weitere Frage hinzufügen: Was bedeutet eigentlich die Stabilität des Systems souveräner Staaten, ein Schlüsselbegriff für die Außenpolitiker in fast allen westlichen Staaten? Sind damit stabile Verhältnisse im Inneren oder die Stabilität im Verhältnis der Staaten zueinander gemeint? Hat das Stabilitätsprinzip Vorrang vor Menschenrechten? Zur Zeit von Jimmy Carter, der die Menschenrechte propagierte, haben wir Europäer fast alle der Stabilität den Vorrang gegeben. Ich frage mich aber, ob wir dabei bleiben werden, nachdem ich voraussehe, dass viele alte, geschichtlich überkommene nationale Konflikte und Nationalitätenkonflikte in den vom Kommunismus befreiten Teilen Europas wieder aufbrechen, möglicherweise sehr leidvoll und sehr opferreich. Ich kann keine Antworten geben. Ich will nur erkennbar machen, dass wir in Europa auch eine Evolution des internationalen Rechts nötig haben.
Am Schluss meines Überblickes über die heutigen Fragen Europas und Deutschlands möchte ich eines festhalten: Für mich gibt es eine große – und wie ich denke –, den meisten Europäern weitestgehend gemeinsame Hoffnung. Sie gründet sich auf den gemeinsamen Willen zur Freiheit der Menschen, gleich welcher Sprache, welcher Nation oder welcher Region in Europa. Der Wille zur Freiheit, wie er sich in Lissabon und in Madrid, in Danzig und Warschau, in Prag, in Leipzig und in Berlin beiderseits des Brandenburger Tores, in Wilna oder Riga oder Tallinn, und wie er sich zuletzt in Moskau und Leningrad durchgesetzt hat, dieser Wille ist für mich eine ganz große Hoffnung. Dieser Wille zur Freiheit hat enorme Kräfte freigesetzt. Diese Kräfte haben neue Tatsachen geschaffen, sie haben alten Beton zum Einsturz gebracht. Ich sehe dies als den Beginn einer Wiedergeburt der kulturellen Gemeinsamkeiten, des kulturellen Kontinuums unseres alten Kontinents. Diese kulturelle Gemeinsamkeit schließt – so hoffe ich – die politische Kultur der Demokratie ein. Sie wird – so hoffe ich – schrittweise auch die am Markt orientierten Wirtschaftsordnungen einschließen. Dies alles wird Jahre und Jahrzehnte beanspruchen, aber die Anfänge dazu sind überall schon gemacht.
Eine großartige Chance für Europa ( 1992 )
Eine Woche vor der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags über die Europäische Union am 7 . Februar 1992 rief Helmut Schmidt in der ZEIT dazu auf, den Zusammenbruch der Sowjetunion und den mit Maastricht beschlossenen Neuanfang in Westeuropa dazu zu nutzen, Ostpolitik und Entspannungspolitik, Integrationspolitik und Menschenrechtspolitik neu auszutarieren.
D ie berühmt gewordene Formel vom »Wandel durch Annäherung« habe ich nie benutzt – nicht etwa deshalb nicht, weil ich ein Gegner der Ostpolitik gewesen wäre, ganz im Gegenteil; sondern weil ich bis zu Gorbatschows Kampagnen für Glasnost und Perestrojka – Schlagworte, die über zwanzig Jahre nach Egon Bahrs Wortprägung auf die Welt gekommen sind – weder einen wesentlichen Wandel des Kommunismus für möglich gehalten noch an eine wesentliche Annäherung zwischen Ost-Berlin und Bonn geglaubt habe. Mindestens die Breschnew-Doktrin, vor allem aber die innere Natur des sowjetischen Großreiches stand dem entgegen.
Inzwischen haben der durchschlagende Erfolg von Glasnost und der totale Misserfolg von Perestrojka gemeinsam jede Hoffnung auf einen inneren Wandel des sowjetischen und des sowjetisch indoktrinierten Kommunismus zerschlagen. An die Stelle der Hoffnung auf Reform der kommunistischen Diktaturen ist deren Zusammenbruch getreten.
Gleichwohl hat die deutsche Ostpolitik der späten sechziger, der siebziger und der achtziger Jahre eine bedeutende, geschichtswirksame, positive Rolle gespielt. Die Ostpolitik hat der Verständigung zwischen dem deutschen Volk und unseren Nachbarvölkern gedient; sie hat Ängste vor Deutschland und vor angeblichem deutschen »Revanchismus« abgebaut; und sie hat die damalige Bundesrepublik als zuverlässigen Vertragspartner zum Frieden ausgewiesen. Zugleich hat die Ostpolitik die Vereinigung der deutschen Nation unter einem gemeinsamen Dach in allen Verträgen und Erklärungen rechtlich
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