Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
dürften, sie zu spielen. Wir sollten vielmehr unsere Rolle im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und im Rahmen der Nordatlantischen Allianz wahrnehmen.
Wir Deutschen haben mehr unmittelbare und mittelbare Nachbarn als irgendein anderes Volk in Europa. Die Skandinavier wohnen auf einer Halbinsel, die Briten leben auf einer Insel, die Italiener auf einer Halbinsel, ebenso die Spanier, die Portugiesen; auch die Franzosen haben es geopolitisch sehr viel leichter als wir, gutnachbarschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Wir Deutschen leben, gemeinsam mit den Polen, in einem schmalen Korridor zwischen der Ostseeküste und den Alpen, durch den seit der Völkerwanderung immer wieder Völker hin- und hergezogen sind: die einen von Ost nach West, die anderen – Napoleon etwa – von West nach Ost. Es gab immer wieder zentripetale Kräfte, die in das Zentrum hineinstießen, der Dreißigjährige Krieg könnte hier genannt werden; aber immer wieder gab es auch – jedenfalls in den letzten Generationen – zentrifugale Vorstöße aus Deutschland heraus in Richtung Polen, in Richtung Frankreich, in Richtung Balkan. Unsere wichtigste Rolle ist und bleibt, gute Nachbarn zu sein! Das ist ganz besonders dann schwer, wenn man so viele Nachbarn hat.
Es gibt gegenwärtig keine umfassenden Zukunftskonzepte für Europa. Ich glaube nicht, dass dieser Tatbestand jemandem vorzuwerfen ist. Denn auf den Katarakt von Ereignissen der allerletzten Jahre war niemand vorbereitet. Es konnte auch niemand darauf vorbereitet sein. Der Katarakt ist offenkundig noch nicht an seinem Ende angekommen. Deswegen sollten wir festhalten an dem, was wir haben und was sich bewährt hat. Das ist zum ersten die Allianz, die unter den gegenwärtigen Umständen sicherlich ihren Rüstungsaufwand wesentlich abbauen darf, und zwar Zug um Zug und im Gleichgewicht mit dem Abbau auf der anderen Seite. Das ist zum anderen die Europäische Gemeinschaft. Auf diesen beiden vorhandenen Fundamenten sollten sich die weiteren Entwicklungen vollziehen, die weitere Evolution der Idee der KSZE beispielsweise, später vielleicht auch ein neues System kollektiver Sicherheit in Europa. Das verlangt alles nach unserer tätigen Mitarbeit, es verlangt keineswegs nach einer deutschen Führungsrolle.
Die Europäer, wir alle Europäer gemeinsam, wir werden es noch schwierig genug finden, zu einem neuen, anerkannten Gleichgewicht auf unserem kleinen Kontinent zu kommen. Wir sehen heute, wie die Polen am liebsten Mitglieder der NATO würden, gleiches gilt für die Tschechen und die Slowaken und die Ungarn – aus Gründen, die ich gut verstehen kann. Dies wäre aber heute in der Tat keinem Regierenden in Moskau zuzumuten. Wir sehen auch, dass die gleichen Länder am liebsten heute schon Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden wollen. Auch ökonomisch wird es schwierig werden, ein neues Gleichgewicht zu finden. All dies wird sich erst schrittweise herausbilden.
Es wird auch schwierig sein für uns Europäer, zu einem anerkannten Gleichgewicht des Respekts zu gelangen. Ich meine den Respekt gegenüber den völkerrechtlichen Prinzipien, den moralischen Prinzipien, zu denen wir uns bekennen, die sich aber zum Teil überlagern und zum Teil miteinander im Konfliktverhältnis stehen. Nehmen wir das Prinzip der Souveränität. Träger der Souveränität sind die diplomatisch anerkannten Staaten. Nehmen wir dazu das andere Prinzip des Selbstbestimmungsrechts. Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts? Wir können hier die Völker meinen, manche meinen die Nationen; aber wie ist das eigentlich mit den nationalen Minderheiten? Und wie stehen dazu drittens die Menschenrechte? Träger der Grundrechte ist das Individuum, die einzelne Person, wohl auch eine Gruppe von Personen. Wann ist es im Interesse der Grundrechte von Menschen innerhalb eines Staates erlaubt, von außen die Souveränität dieses Staates zu verletzen, um zugunsten dieser Menschen einzugreifen? Erst im Falle des Genozids, dann, wenn Menschen massenweise umgebracht werden? Oder schon früher?
Das sind neuartige Fragen, mit denen sich die Welt in den letzten 45 Jahren und seit der Gründung der Vereinten Nationen nur selten hat beschäftigen müssen. In diesem Jahre blitzte die Fragestellung zuerst auf, als die Amerikaner das Kurdenproblem entdeckten. Wie sollen wir uns aber verhalten, falls es zu einer blutigen Vergewaltigung der Kroaten käme? Die Außenminister der EG haben sich zunächst wochenlang auf den
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