Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
offengehalten und die Hoffnung darauf im Bewusstsein bewahrt.
Die Ostpolitik hatte mehrere Wurzeln. Unter ihnen sei erinnert an das Denken deutscher Katholiken und deutscher Protestanten, die in der Mitte der sechziger Jahre für eine realistische Beurteilung der inzwischen geschaffenen Tatsachen eintraten – einschließlich einer Anerkennung der Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze zu Polen.
Eine andere Wurzel lag in der deutschen Sozialdemokratie. So bin ich selbst im Sommer 1966 einer der ersten deutschen Politiker gewesen, die in Warschau, in Prag und in Moskau die Möglichkeiten zur Verständigung sondiert haben. Inzwischen war an die Stelle des machteuphorischen, polternden und drohenden Vabanque-Spielers Chruschtschow der etwas umgänglichere Breschnew getreten.
Eine wichtige Legitimation erfuhren die ostpolitischen Ansätze der Regierung dann in den Jahren der Großen Koalition durch die Harmel-Doktrin des Jahres 1967 . Auf Initiative des belgischen Außenministers Fierte Harmel beschloss der Ministerrat der NATO eine doppelte Strategie gegenüber Moskau und dem Warschauer Pakt: einerseits Abschreckung einer etwaigen Aggression oder Pression durch Moskau mittels ausreichender Verteidigungsfähigkeit des Westens; andererseits Angebot von Entspannung, besseren Beziehungen und Zusammenarbeit, um Fortschritte bei der Lösung der »grundlegenden politischen Fragen« im geteilten Europa zu ermöglichen. Der deutsche Außenminister Willy Brandt und seine Mitarbeiter hatten daran ihren Anteil.
Man durfte allerdings in die Ostpolitik keine übertriebenen Hoffnungen setzen. Das zeigte sich im nächsten Jahr, als Moskau den Prager Frühling militärisch zerschlug und durch die zugleich verkündete Breschnew-Doktrin jedermann zu verstehen gab, man werde im Machtbereich Moskaus keinerlei Revision des kommunistischen Diktatur-Systems zulassen. Trotz aller Empörung darüber blieb die Harmel-Doktrin des Westens in Kraft. So konnte die Ende 1969 gebildete Bundesregierung der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt innerhalb weniger Jahre mit der Sowjetunion, mit Polen und der ČSSR Gewaltverzichtsverträge aushandeln und mit der DDR den Grundlagenvertrag zustande bringen – übrigens alle gegen den Widerstand der CDU / CSU -Opposition im Bonner Bundestag.
Die deutsche Ostpolitik jener frühen siebziger Jahre stieß nicht nur auf harte innenpolitische Kritik der CDU / CSU , sondern auch auf erhebliche Zurückhaltung bei unseren wichtigsten westlichen Bündnispartnern, vor allem in Washington. Eine betonte Klarheit und Durchsichtigkeit in der sorgfältigen Erfüllung unserer im westlichen Bündnis schon seit Adenauer übernommenen Pflichten zur militärischen Verteidigung waren deshalb für die außenpolitische Sicherung unserer westlichen Flanke genauso geboten wie unsere tatkräftige Mitwirkung an der Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Erweiterung durch sechs zusätzliche Mitglieder, vor allem durch den Beitritt Großbritanniens unter Ted Heath.
Indessen stieß die tatkräftige deutsche Mitwirkung an der politischen und diplomatischen Vorbereitung der Helsinki-Konferenz und ihrer Schlussakte nicht nur abermals auf starke Ablehnung durch die innenpolitische Opposition (inzwischen unter Führung Helmut Kohls), sondern auch auf erhebliche Skepsis und Zurückhaltung bei Henry Kissinger (damals amerikanischer Außenminister). Schließlich war ja – nicht nur den Skeptikern – deutlich erkennbar, wie sehr die Breschnew-Leute darauf hofften, die Helsinki-Schlussakte werde zur Legitimierung ihrer Satellitenstaaten und deren Grenzen beitragen.
In Bonn hingegen setzten wir auf die psychologische und politische Wirkung, die innerhalb der kommunistisch regierten Staaten Europas vom Korb III der Helsinki-Schlusserklärung ausgehen würde, genauer gesagt: von der Unterschrift der kommunistischen Diktatoren unter die detaillierte Darlegung von Grund- und Menschenrechten der einzelnen Person. Es gelang uns 1975 , unsere eigenen Verbündeten zu überzeugen, dass diese Erwartung gerechtfertigt war; Präsident Gerald Ford gab dabei den Ausschlag.
Schon wenige Jahre nach der Verabschiedung der Schlussakte in Helsinki im Sommer 1975 zeigte sich, dass Menschen wie Sacharow, Walesa oder Havel und Bewegungen wie Solidarność oder Charta 77 durch den Korb III der Helsinki-Schlussakte eine starke Ermutigung und ebenso eine überaus nützliche taktische Hilfe erfuhren. In fast allen kommunistisch regierten
Weitere Kostenlose Bücher