Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Ich nenne das Weltproblem der Ökologie, eigentlich ein ganzer Fächer von Problemen, die unter dieses Stichwort gehören. Ich nenne die Probleme der Rüstungsbegrenzung, der Kontrolle des Waffenhandels. Alles das sind Felder, auf denen ein einzelner Staat Europas allein nicht genug Gewicht auf die Waagschale bringt, um gegenüber dem größeren Gewicht der Weltmächte USA , Russland, China, Japan, die eigenen Interessen ausreichend vertreten zu können. Diese Einsicht ist noch nicht überall vorhanden. Sie wird sich vielleicht erst im Laufe der nächsten zehn Jahre ergeben.
Der Grund für meine Überzeugung, dass wir auch die Post-Maastricht-Krise, die mehr eine psychologische als eine politische Krise ist, überwinden werden, ist meine Sicherheit, dass die strategischen Motive, von denen ich sprach, im Bewusstsein der handelnden Staatsmänner – gleich ob in Warschau, Prag, Paris, London oder Rom – eine ausschlaggebende Rolle spielen werden: nämlich das Motiv, Deutschland einzubinden, das Motiv des ökonomischen Vorteils durch den gemeinsamen Markt und das Motiv, gemeinsam genug Gewicht auf die Waagschale zu bringen in all den genannten Problembereichen. Es gibt darüber hinaus für einzelne Staaten allerdings noch andere, spezielle Motive. England ist der EG beigetreten, um Einfluss nehmen zu können oder auf Englisch »to have a thumb in the pie«.
In dem Zusammenhang bin ich sehr unzufrieden mit der Tätigkeit des Europäischen Parlaments. Ich habe dieser Institution auch einmal angehört, das ist nun schon beinahe vierzig Jahre her. Inzwischen haben wir die Unabhängigkeit der Abgeordneten gewaltig dadurch gestärkt, dass sie direkt gewählt werden. Aber ich höre immer nur, dass sie sich darüber beklagen, sie hätten keine ausreichenden Kompetenzen. Dabei schöpfen sie ihre tatsächlichen Kompetenzen gar nicht richtig aus. Wenn ich mir manche der schwer verständlichen und zum Teil wirklich eher törichten bürokratischen Direktiven und Verordnungen ansehe, welche die Bürokratien der zwölf Mitgliedsländer und die EG -Bürokratie immer wieder gemeinsam aushecken, so frage ich mich, wieso das Europäische Parlament zu solchen Verordnungen eigentlich keine public hearings macht – unter Einladung aller europäischen Fernsehnetze!
Die europäischen Regierungen sind natürlich an dem ganzen bürokratischen Unsinn genauso schuldig wie irgendjemand sonst in Brüssel. Es sitzen in Brüssel 13 Bürokratien an einem Tisch: zwölf nationale und eine EG -Bürokratie. Wiederholt konnte man erleben, dass jemand, der in seinem heimatlichen Kabinett oder Parlament nicht durchkommt mit einer Lieblingsidee, sie hintenherum auf den Tisch seines jeweiligen Rates in Brüssel bringt, dann wird sie dort beschlossen und kommt als Direktive doch nach Paris oder nach Bonn zurück. Es gibt viel zu viele Kommissare. Zwölf Mitgliedsstaaten in der EU bedeuten nicht etwa bloß zwölf Kommissare; denn die größeren Staaten wollen jeweils zwei Kommissare haben, wir Deutschen auch. Demnächst werden es 19 oder zwanzig oder 22 Kommissare sein, wenn es so weitergeht. Sie alle wollen zudem einen ganzen Stab haben und einen Generaldirektor. Es ist eine der dringenden Aufgabe für das Europäische Parlament, da hineinzuschneiden.
Eine der wichtigsten Aufgaben, die gegenwärtig ein bisschen im Verborgenen behandelt werden, ist der Umstand, dass wir keine gemeinsame Politik der zwölf oder in Zukunft vierzehn oder fünfzehn Mitgliedstaaten haben auf dem Felde der Aufnahme von Flüchtlingen, auf dem Felde der Asylgewährung und auf dem Felde der Einbürgerung. Wenn dies so weitergeht, dann kann die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union bald zum Teufel gehen.
Zum Schluss möchte ich von Feldern sprechen, auf denen die Deutschen für die Welt Mitverantwortung tragen müssen, ohne dass dies unsere Selbsteinbindung in die Europäische Union beeinträchtigt. Das erste Feld ist der gegenwärtig sich abzeichnende Kampf von Religionen gegeneinander. Von den sechs Milliarden Menschen am Ende dieses Jahrzehnts werden rund eine Milliarde Moslems sein, etwas weniger sogenannte Christen. Wir im Westen – auch wir in Deutschland – machen den Fehler, Erscheinungen von muslimischem Fundamentalismus, wie sie zum Teil aus dem Iran, zum Teil auch aus Algerien gefördert werden, misszuverstehen, als ob sie typisch seien für den Islam. Unsere Kenntnisse des Islam sind beinahe null, ein gefährliches Defizit! Von Anwar el-Sadat habe
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