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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Deregulierungen. All dies zum Teil in der Form von Gesetzen der Besatzungsmächte, zum Teil in ihrem Auftrag erlassen. Die Bundesrepublik wurde erst ein Jahr später begründet. Der Kalte Krieg hatte schon 1947 eingesetzt.
    Winston Churchill hatte bereits 1946 in seiner Zürcher Rede die westwärts gerichtete Expansion der Sowjetunion diagnostiziert, auch das Wort vom Eisernen Vorhang stammt von Churchill. Die übergroße Mehrzahl der Deutschen konnte weder 1946 die Rede Churchills noch 1947 die Rede Marshalls in ihr Bewusstsein aufnehmen. Erst die dritte große Rede, mit der Robert Schuman 1950 den Anstoß für die Bildung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Schuman-Plan) gab, trat ins allgemeine Bewusstsein. Kohle und Stahl waren die Schlüssel für den Wiederaufbau der weitgehend zerstörten europäischen Städte und der Volkswirtschaften insgesamt. Der geistige Urheber des Schuman-Plans, der große Franzose Jean Monnet, begann die westeuropäische Integration mit sechs Staaten: Frankreich, Deutschland, Italien, Holland, Belgien und Luxemburg. Aber er zielte von vornherein sehr viel weiter. Sein Weg war auf eher englische Weise pragmatisch: ein Schritt nach dem andern, nicht alle auf einmal. Ohne Monnet gäbe es wohl kaum die heutige Europäische Union mit fünfzehn Mitgliedsstaaten. Aber es gäbe sie auch nicht ohne George Marshall.
    Es gab nach Kriegsende nur wenige Deutsche, die mit ausreichendem Überblick den Marshallplan (damals zumeist ERP – European Recovery Program – genannt) zureichend einordnen konnten. In der großen Mehrheit kämpften wir um Lebensmittel und Kohlen, wir waren kurz vor dem Verhungern. An manchen Tagen des Winters 1946 / 47 blieben wir im Bett, weil wir nichts zu essen hatten und auch nichts zum Heizen. Aber die Demontagen der übrig gebliebenen Industrieanlagen gingen weiter, und die Arbeitslosigkeit stieg; der einzige Markt war der Schwarzmarkt. Ansonsten hatte die Wirtschaft nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was wir Studenten von unseren Professoren über Ökonomie lernten.
    Doch im Juni 1948 ersetzten die westlichen Besatzungsmächte die hoffnungslos inflationierte Reichsmark durch die neue Währung namens Deutsche Mark. Diese sogenannte Währungsreform erwies sich als unvorhergesehener Erfolg. Zusammen mit der allmählichen Abschaffung der Bezugsscheinwirtschaft durch Ludwig Erhard sorgte die knappe neue Währung für eine völlig neue Wirtschaftslage in Westdeutschland. Zuvor hatte Geld nicht wirklich eine Rolle gespielt – außer auf dem Schwarzmarkt, wo man sechs Reichsmark für eine einzige Lucky Strike zahlte.
    Binnen zwei Jahren verschwanden die Bezugsscheine, und in den Geschäften wurden Waren angeboten, von denen man bislang nur träumen konnte. Brot, Butter, Obst und sogar Kaffee und Zigaretten. Von nun an zählte nur noch Geld, das aber musste man erst einmal verdienen. Die monetäre und ökonomische Revolution – und mit ihr der neue westdeutsche Staat – wären ohne die güterseitige Alimentation durch den Marshallplan, der fast gleichzeitig mit der neuen Währung in Kraft trat, bereits in ihren Anfängen gescheitert.
    Später, in den fünfziger Jahren, wurde ich Mitglied des Monnet-Komitees, eines privaten Zirkels. Ich war längst überzeugt, dass es nach den napoleonischen Kriegen, nach Bismarcks Krieg gegen Frankreich, nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg höchst wünschenswert wäre, unser Land in eine größere europäische Einheit einzubinden, um eine Wiederholung vergangener Konflikte und Kriege zu verhindern. Das war ohne parallele Selbsteinbindung Frankreichs nicht denkbar.
    Blickt man heute auf die letzten fünf Jahrzehnte zurück, so könnte man zu dem oberflächlichen Schluss kommen, dass sich Europa und auch die Sowjetunion nach der Vorgabe eines strategischen Gesamtplanes entwickelt haben (einschließlich Marshallplan, NATO und Europäische Gemeinschaft), mit dem Ziel des Zusammenbruches der Sowjetunion, der Befreiung Osteuropas und der Wiedervereinigung Deutschlands. Doch die historische Wahrheit ist komplizierter. Der Vorschlag George Marshalls wäre vielleicht nie in die Tat umgesetzt worden, hätte [der britische Außenminister] Ernest Bevin sich nicht einen Tag später enthusiastisch an seine Realisierung gemacht. In der Ereigniskette danach kam es zu einigen ernsten Krisen; sie wurden von Politikern gemeistert, die nicht nach einem vorgefertigten Schema handelten, sondern die ihr moralisches und nationales

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