Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
und auch die Müttersterblichkeit abgesenkt, aber dadurch eben gleichzeitig das Bevölkerungswachstum nur noch beschleunigt.
Ich möchte mit drei persönlichen Worten an unsere Politiker schließen. Im Lichte der deutschen und europäischen Verantwortung gegenüber den Aufgaben in der sich ändernden Welt erscheint mir die Bewahrung oder auch die Erringung von innenpolitischer Macht nicht die Hauptaufgabe der Politiker zu sein. Ich betone noch einmal, es sind alles Aufgaben sowohl für die Regierenden wie für die Opponierenden. Der Dienst am Gemeinwohl ist die Hauptaufgabe – für die Opposition wie für die Regierung.
Mein zweiter Appell: Reisen Sie so oft wie möglich in unsere Nachbarländer im Osten, im Süden, im Norden, vor allem aber nach Frankreich. Und bitte nicht nur, um mit den Politikern ihrer jeweiligen Bruderparteien zu reden! Gehen Sie in die USA , gehen Sie nach Russland! Gehen Sie in die ganze Welt und lernen Sie! Ich will hier dankbar erwähnen, wie zwei ältere Freunde – Fritz Erler und Herbert Wehner – mich, als ich 1953 als junger Mann im Bundestag angefangen habe, in die ganze Welt geschickt haben, um zu lernen. Herbert Wehner hat mich in das Monnet-Komitee geschickt, Fritz Erler nach Amerika und nach England. Ich appelliere an unsere Politiker: Schicken Sie Ihre jungen Kollegen in die Welt, damit sie begreifen, was heute in Spanien oder in Polen geschieht und wie die Spanier oder die Polen insgesamt – nicht nur die von der jeweiligen Bruderpartei – das Problem der Europäischen Union betrachten!
Mein dritter Appell geht zurück auf ein Wort meines toten Freundes Eric Warburg. Er war ein in Deutschland geborener Jude, der Deutschland gerade noch rechtzeitig hat verlassen können; er ging nach Amerika, wurde Offizier der amerikanischen Armee, hat gegen Deutschland gekämpft und ist aus deutschem Patriotismus nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt und wieder Deutscher geworden. Ein Wort, das übrigens auch von Erler oder von Wehner hätte stammen können: »Wir Deutschen haben dafür zu sorgen, dass wir niemals wieder so tief fallen, aber auch dafür, dass wir nicht all zu hoch steigen.«
Fünfzig Jahre nach dem Marshallplan: Was wird aus Europa? ( 1997 )
Am 5 . Juni 1947 hatte der amerikanische Außenminister George C. Marshall in einer Rede vor Studenten der Universität Harvard das »European Recovery Program« der US -Regierung vorgestellt. Dieses schon bald unter dem Namen Marshallplan berühmt gewordene Wiederaufbauprogramm für Europa bildete die ökonomische Grundlage, auf der später zahlreiche politische Bemühungen um eine europäische Integration aufbauen konnten. Helmut Schmidt nahm den 50 . Jahrestag der Harvard-Rede zum Anlass, die Bedeutung des Marshallplans für den Wiederaufstieg Europas aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs zu würdigen, aber zugleich zu betonen, dass für den Ausbau der Europäischen Union in Zukunft vor allem die Zusammenarbeit mit Paris entscheidend sei.
O hne George Marshalls Rede am 5 . Juni 1947 in Harvard und ohne den Marshallplan – am 3 . April 1948 in Washington vom Kongress verabschiedet – wäre die Nachkriegsgeschichte Deutschlands wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Auch die Geschichte Europas. Die großzügige Hilfe der Vereinigten Staaten wurde zwar primär aus strategischem Kalkül gegeben, sie war aber zugleich ein in der Weltgeschichte erstmaliger Akt großer ökonomischer Solidarität gegenüber anderen Völkern.
Ohne den Marshallplan wäre – angesichts des Elends von Millionen – der Kommunismus leicht in den Westen Mitteleuropas, nach Süd- und Westeuropa vorgedrungen; Stalins Imperialismus hätte möglicherweise leichtes Spiel gehabt. Für den ökonomischen und politischen Erfolg des Marshallplans war es ein Glücksfall, dass Stalin ihn ablehnte und die von ihm beherrschten Staaten im Osten Europas von einer Beteiligung ausschloss. Sonst wären die Zuwendungen der Amerikaner für den Marshallplan in Europa versickert; der Sieg der erfolgreichen Marktwirtschaft über die erfolglose Bezugsscheinwirtschaft, ja über die den Kommunisten selbstverständliche Zentralverwaltungswirtschaft wäre wahrscheinlich vereitelt worden.
Aber wer will wissen, was geworden wäre, wenn …? Tatsächlich fielen für uns Deutsche in den drei westlichen Besatzungszonen im Jahre 1948 fast gleichzeitig drei positive Faktoren ins Gewicht: der Marshallplan, die Währungsreform und der Beginn der volkswirtschaftlichen
Weitere Kostenlose Bücher