Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Pflichtgefühl zum Maßstab machten und nicht zuletzt ihren gesunden Menschenverstand. Von den Politikern wurde viele Male Umdenken verlangt.
Auch die unternehmerischen und finanziellen Eliten haben ihre Ansichten und Ziele geändert. J. M. Keynes und H. D. White hatten unter Roosevelts Ägide das Bretton-Woods-System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse mit dem amerikanischen Dollar als Leitwährung gegründet. Ein Vierteljahrhundert später jedoch schaffte Nixon die Leitwährung ab und löste dadurch weltweit heftige Wechselkursschwankungen aus. Dadurch kam es auf den Finanzmärkten zu Spekulationen in bisher ungekanntem Ausmaß. Ein robuster Neokapitalismus begann sich auszubreiten, erst in Amerika, dann zunehmend in Europa. Der Shareholder-Value wird heute von manchen höher bewertet als die Loyalität gegenüber den Kunden und der Belegschaft eines Unternehmens, manchmal sogar höher als die Loyalität zum eigenen Land – das Gegenteil der Aufgabe, die Kennedy gesetzt hatte, als er seine Landsleute drängte, sich zu fragen, was sie für ihr Land tun könnten. Heute dagegen scheinen sich viele Manager zu fragen: Was kann ich für mich selbst tun?
Der neue Raubtier-Kapitalismus, in den achtziger Jahren in den USA entstanden und sich in fast alle industriellen Demokratien ausbreitend, hat mit der ökonomischen Globalisierung keine Probleme, im Gegenteil. Die meisten Politiker der industriellen Demokratien stehen jedoch ziemlich hilflos davor. Vier Faktoren zusammen haben das »Globalisierung« genannte Phänomen bewirkt:
Zum ersten eine ungeheure Beschleunigung des technischen Fortschritts im Verkehr, in der Telekommunikation einschließlich des Fernsehens sowie in der Finanzierung, während der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts entscheidend stimuliert von militärrelevanter Forschung und Entwicklung; zum zweiten die weltweite Liberalisierung des Handels und des Geld- und Kapitalverkehrs, die alle bisherige Wirtschaftsgeschichte überbietet; zum dritten die im 20 . Jahrhundert, vornehmlich in der letzten Hälfte, stattgefundene Explosion der Weltbevölkerung auf das Vierfache der Zahl am Beginn; zum vierten seit den achtziger Jahren die Öffnung fast aller Staaten der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aber Chinas und der Staaten Südost- und Südasiens, und deren aktive Beteiligung an der Weltwirtschaft. Heute sind doppelt so viele Menschen am weltweiten Wirtschaftsaustausch beteiligt wie noch vor zwei Jahrzehnten, als wir wegen der OPEC -Ölpreisexplosion den ersten Weltwirtschaftsgipfel einberiefen.
Heute kommen viele langlebige Konsumgüter und in zunehmendem Maß auch Investitionsgüter aus Ländern mit niedrigeren Löhnen, niedrigeren Sozialabgaben und deshalb niedrigeren Preisen. Schon seit einem Vierteljahrhundert kommt Hochtechnologie aus Japan, aber demnächst wird sie auch aus China, Indien, Indonesien oder anderen Ländern Asiens kommen. Auf vielen Feldern der modernsten Spitzentechnologie hat Europa die Führung abgegeben, zunächst an die Amerikaner, aber seit einiger Zeit auch an Japan; demnächst werden auch andere asiatische Wettbewerber Satelliten, Chips, Computer oder Gentechnologie liefern.
Die Globalisierung hat Arbeitsplätze von Westeuropa in Niedriglohnländer, nach Osteuropa, nach Amerika und Asien, auswandern und in den alten industriellen Demokratien Europas Massenarbeitslosigkeit entstehen lassen. Bei uns sinkt der reale Lebensstandard, in den neuen Industrie- und Schwellenländern steigt er. Die europäischen Politiker haben diese Entwicklung viel zu spät erkannt, sie wirken heute hilflos. Demgegenüber haben die Amerikaner längt umgeschaltet, wenngleich zu Lasten der Armen und der Empfänger niedriger Löhne. Das müssen die europäischen Politiker vermeiden, aber mit wenigen Ausnahmen haben sie noch keine Rezepte. Auch die Spitzen der Banken und der großen Unternehmen und ihrer Verbände haben keine Rezepte.
Das 21 . Jahrhundert wird, wegen der anhaltenden Industrialisierungen in außereuropäischen Ländern und wegen des weiteren Wachstums der Weltbevölkerung, bedeutende Gefährdungen mit sich bringen: Flüchtlingsströme, Beeinträchtigungen der Atmosphäre unseres Planeten und seiner Meere. Opfer werden unvermeidlich – aber wer wird dazu bereit sein? Es besteht die Gefahr, dass die Weltmächte sich nolens oder volens darauf einigen, dass alle anderen größere Opfer zu bringen haben als sie selbst. Dies kann auch für das Weltwährungsgefüge gelten, für
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