Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
kulturellen Decorums auf deutscher Seite eine Normalisierung im realistischen Sinn erfolgen wird.
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6 Dieser Widerwille schließt auch die Erinnerung an deutsche Opfer des Krieges ein. Wenn anläßlich einer Veranstaltung zum Gedenken an die Bombardierung Dresdens am 13./14. Februar 2004 in München Demonstranten mit dem Slogan Bomber Harris, do it again! auftreten, so ist das mehr als nur ein Manifest des schwarzen Humors. Es zeigt vor allem, wie weit sich manche Normalisierungsgegner in ihrem Furor des negativen Nationalismus von den zivilgesellschaftlichen Normen entfernt haben.
7 Vgl. die systemtheoretisch inspirierte Monographie von Günter Sautter, Politische Entropie. Denken zwischen dem Mauerfall und dem 11. September 2001 (Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Peter Sloterdijk), Paderborn 2002.
8 Man kann die Rede und den darauf folgenden Streit darüber nachlesen in der von Frank Schirrmacher herausgegebenen voluminösen Dokumentation Die Walser-Bubis-Debatte, Frankfurt am Main 1999.
9 Auch von den gegen Walser erhobenen Vorwürfen anläßlich seiner Satire auf Marcel Reich-Ranicki in Tod eines Kritikers bleibt nach Überprüfung des Wortlauts nur die Einsicht in deren Gegenstandslosigkeit – und in die Eigendynamik der Antisemitismus-Hellseherei – zurück.
9 Glückliche Entfremdung:
Polemologischer Ausblick mit René Girard
Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, welcher Sinn dem Ausdruck »deutsch-französische Beziehungen« vor dem Hintergrund der ausgeführten Überlegungen zugesprochen werden darf. Es kommt vermutlich nicht überraschend, wenn ich dem Wort »Beziehungen« eher ironische Aspekte abgewinne. Natürlich denke ich nicht daran, mich über die vielfältigen Netzwerke deutsch-französischer Interaktionen lustig zu machen, die im Gefolge des Elysée-Vertrages über Jahrzehnte hin ausgearbeitet wurden – von der Umwandlung der Staatsbesuche in Routinekonsultationen bis zu den regelmäßigen Treffen der Außen- und Verteidigungsminister, von den gemeinsamen Wirtschaftsräten bis zur Airbusproduktion. Auch der Schüleraustausch ist eine gute Idee, und der da und dort praktizierte bilinguale Unterricht ebenso. Ich möchte aber für diesmal von diesen an sich selbst sehr wertvollen Formen veranstalteter Kontakte absehen und sie den zuständigen Stellen überlassen, im Vertrauen darauf, daß die Arbeitsbeziehungen der Begegnungsprofis jederzeit unabhängig von philosophischen und kulturtheoretischen Kommentaren funktionieren.
Womit ich mich in meiner Schlußüberlegung befassen möchte, ist die Frage nach dem inneren Abstand zwischen den beiden Ländern nach dem letzten Krieg. Ich meine, Argumente dafür geboten zu haben, daß und warum dieser viel größer ist, als es die gewöhnlichen Freundschafts- und Kooperationsreden zum Ausdruck bringen. Die Gründe hierfür lassen sich der obigen Skizze über die post-stressorische Evaluierung der Kriegsresultate in den beiden Kulturen entnehmen. Die Franzosen und die Deutschen gingen nach 1945 in kultureller und psychopolitischer Hinsicht de facto immer weiter auseinander, während sie auf der Ebene der offiziellen politischen Beziehungen zu einer neuen, für beide Seiten heilsamen Freundschaft fanden. Ich behaupte nun, diese beiden Tatsachen, das Auseinandergehen und die Befreundung, bedeuten in der Sache ein und dasselbe.
Die These will erläutert werden. Blicken wir noch einmal auf die aus deutsch-französischer Erlebnisperspektive bewegendste Szene der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, die Begegnung von de Gaulle und Adenauer unter den Bögen der Kathedrale von Reims. Was die beiden alten Männer damals wirklich miteinander aushandelten, war nichts anderes als die wohltuende Entflechtung der beiden Nationen. Es war die Auflösung einer fatalen Überbeziehung, die mindestens bis in die Ära der napoleonischen Kriege zurückreichte und infolge welcher die Deutschen und die Franzosen sich in einer endlosen Folge von Spiegelungen, Nachahmungen, Überbietungen und projektiven Einfühlungen in den anderen, kulturell wie politisch, ineinander verhakt hatten – in akuten Formen beginnend mit dem französischen Import der deutschen Romantik durch Germaine von Staëls folgenreiches Buch De l’Allemagne von 1813 und dem preußischen Import der napoleonischen Kriegskunst durch Clausewitz’ Buch Vom Kriege (posthum 1832-1834). In diesem Sinn darf man sagen, die beiden Völker hätten sich damals offiziell
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