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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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voneinander getrennt, und was de Gaulle und Adenauer einander gelobten, war ein immerwährendes gegenseitiges Loslassen, in gewisser Weise sogar ein immerwährendes gegenseitiges Nicht-Verstehen – bis hin zur Unterlassung jedes neuen Versuchs in dieser Richtung. Das seither bestehende gute Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ruht auf der soliden Basis jener endlich erreichten Beziehungslosigkeit, die man diplomatisch als Freundschaft zwischen den Völkern beschreibt.
    Am 8. Juli 2012 werden wir also den 50. Jahrestag der deutsch-französischen Versöhnung begehen – wir sollten uns dabei bewußt halten, daß es das Datum ist, an dem unsere heilsame Entfremdung voneinander, unser wachsendes Desinteresse aneinander, unser gelassenes, von detaillierten Kenntnissen zumeist wenig getrübtes Nebeneinander die ersten bestimmteren Konturen annahmen. 10 Damals, in den Gesprächen zwischen den zwei großen Alten, begann sich der tödliche Clinch aufzulösen, der die beiden Völker seit der Beinahe-Schlacht von Valmy im September 1792 in einer politischen Form von animalischem Magnetismus aneinander gebannt hatte. Die Kanonade von Valmy bezeichnete bekanntlich nicht nur den neutralen Moment, von dem an die Französische Revolution von Abwehr auf Angriff umschaltete. Sie war das verhaltene Vorspiel zum Zeitalter der Massen, das mit der französischen Erfindung der allgemeinen Mobilmachung einsetzte. Diese führte in gerader Linie zu der synchronen Erregung eines ganzen Volks aus dem Geist der nationalen Panik, des nationalen Enthusiasmus, der nationalen Empörung gegen den gemeinsamen Feind. Die Franzosen waren die Erstgeborenen der neuen Massendynamik, und indem sie mit ihr Europa überrannten, erteilten sie ihm einen Unterricht, der einhundertfünfzig Jahre lang nachwirkte. Schon mit Leipzig und Waterloo schlug Preußen zurück. Seither sprangen zwischen Franzosen und Deutschen die Funken einer reziproken Hypnose hin und her, indem sie Zug um Zug jeweils für das andere Lager das wurden, was René Girard in seiner Studie Achever Clausewitz (etwa: Clausewitz zu Ende denken) als Einheit von modèle und repoussoir , Vorbild und Schreckgespenst, beschrieben hat. 11
    Es besteht für mich kein Zweifel: Das genannte Buch ist seit langem das erste, das wirklich neue Bewegung in das Nachdenken über Frankreich und Deutschland bringt, indem es das Geheimnis einer pathogenen gegenseitigen Faszination zu lüften sucht. Es zeigt sehr eindrucksvoll, wie bei Clausewitz die eifersüchtige Nachahmung Napoleons einsetzt, mittels welcher ein hochbegabter preußischer Offizier die beispiellosen Erfolge des revolutionären französischen Bellizismus für die deutsche Seite wiederholbar machen möchte. Es erläutert in suggestiver Weise, wie sich auf dem Umweg über das Buch Vom Kriege die Napoleonisierung der Konfliktkulturen in Europa vollzog, insbesondere der massenhafte Verbrauch von jungen Männern in freiwilligen Aufgeboten, später in Wehrpflichtarmeen – eine Spur, die fast geradewegs von Jena nach Verdun führt. In Reims haben de Gaulle und Adenauer ihre Nationen entnapoleonisiert und damit den Weg zu einer entfaszinierten Nachbarschaft geöffnet.
    Man ist versucht, unter der Anregung durch Girard einen Schritt weiter zu gehen. Es wäre tatsächlich nicht schwierig aufzuzeigen, wie das Spannungsfeld zwischen unseren beiden Ländern nicht nur durch den napoleonischen Magnetismus und seine preußisch-österreichischen Spiegelungen strukturiert wurde. Es wurde ebenso und mehr noch in Form gehalten von dem ideologischen Stress, den das Welttheater namens Französische Revolution auch auf dieser Seite des Rheins hervorgerufen hatte. Neben der imitatio Napoleonis war es vor allem die imitatio revolutionis , die affektivdynamisch und ideologisch in Deutschland und weit über Deutschland hinaus in den größten und gefährlichsten Maßstäben wirksam werden sollte. Durch die Optik der Nachahmungslehre gesehen, kann man Karl Marx endlich als das erkennen, was er wirklich gewesen ist: der höchste Verdichtungspunkt französisch provozierter deutscher Eifersüchte. In ihm fallen die beiden Nachahmungen in eine zusammen, die des Feldherrn zu Roß, der die Weltseele verkörperte, und die des triumphal angreifenden Revolutionsvolks, dessen Rolle nach der Intervention des deutschen Denkers mit den mobilgemachten Proletariaten aller Länder zu besetzen war. Das ganze Werk von Marx bestätigt die von Heinrich Heine aufgestellte These: Wenn

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