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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Deutsche sich in französische Angelegenheiten einmischen, geraten diese um eine Stufe allgemeiner, erbitterter und verheerender. Greift noch die Doppelfaszination der Russen durch die Duellpartner Deutschland und Frankreich in den Gang der Dinge ein, und kommt die deutsche Gegenfaszination durch die weltweit ausstrahlende russische Gewaltentfesselung vom Oktober 1917 hinzu, dann ist der Tatbestand erfüllt, den Girard mit Clausewitz das »Streben nach dem Äußersten«, la montée aux extrèmes , nennt.
    Denkt man die Girardschen Anregungen zu einer globalen Dramaturgie der mimetischen Reibungen in eine andere Richtung weiter, hilft sie überdies zu verstehen, warum sich die deutsch-französischen »Beziehungen« in einer bipolaren Betrachtung nicht ganz erschließen können. In Wahrheit sind unsere entspannten und entfaszinierten Verhältnisse ihrerseits Teil eines mehrstelligen Feldes, das einige spannungsreichere Beziehungsdreiecke einschließt. In diesen fließen noch immer starke faszinatorische Energien mit anziehenden und abstoßenden Ladungen. Dazu gehören vor allem eine Trias mit einem französischen, einem deutschen und einem israelischen Pol sowie die andere Trias mit den US -Amerikanern auf der Position des Dritten. In diesen Triaden treten tatsächlich »Beziehungen« im stärkeren Sinn des Worts auf, doch sie zu beschreiben und ihre Kollisionspotentiale auszuloten, würde den gegebenen Rahmen sprengen. Notieren wir zumindest den seit längerem zwischen der Francosphäre und der Americosphäre erbittert ausgetragenen Kulturkampf, den man als Eifersuchtsgefecht zwischen zwei sinkenden Formen des politischen Messianismus beschreiben könnte.
    Sollte es an René Girards großem Wurf etwas zu monieren geben, so ist es das Fehlen der medientheoretischen Dimension. Dieser Befund ist ein wenig erstaunlich, denn die großen affektiven und militärischen Mobilmachungen zwischen den sich duellierenden Nationen, von denen der Autor zu Recht bemerkt: la mobilisation générale est la pure folie , 12 konnten ja ausschließlich durch die modernen Massenmedien als Erfassungs- und Erregungsmedien vollzogen werden. Und diese Medien, als Vehikel der gefährlichen Mimesis, sind heute, nach dem Hinzukommen der elektronischen Technologien, um vieles effektiver als in früherer Zeit. Mehr denn je bieten sie sich als Reizleitungen des Wahnsinns an, virtuell und aktuell, und nur in ihnen kann jenes neue phantomatische Geschehen stattfinden, das man den »internationalen Terrorismus« nennt. Wer dem ausagierten Extremismus auf den Grund gehen will, kommt nicht umhin, die mimetologische Analyse mit der mediologischen zu verknüpfen. Damit will ich sagen, um Girard ernsthaft zu studieren, und das wird unentbehrlich sein, wird man nicht umhinkommen, auch Karl Kraus (den Kritiker einer semi-totalitär verluderten Presse) wiederzulesen und Hermann Broch (dem Autor der Massenwahntheorie ) erneut Gehör zu geben. Von ihnen aus kann man mühelos zu Marshall McLuhan übergehen und seine elegante medientheoretische Ableitung des Nationalismus neu durchdenken. Dann wird man verstehen, warum das »globale Dorf« nicht nur den Frieden nicht gefunden hat, sondern aufgrund welcher Mechanismen es sich in eine weltumgreifende diffuse Zorn- und Eifersuchtsbühne verwandeln mußte.
    Im übrigen weist René Girard mit starkem Nachdruck darauf hin, daß die Baumeister der französisch-deutschen Aussöhnung Söhne der katholischen Kirche gewesen sind, Adenauer nicht anders als de Gaulle und Schumann. Wir nehmen diesen Wink aufmerksam zur Kenntnis. Dennoch kann ich mir nicht Girards Überzeugung zu eigen machen, Europa und der Welt sei nur noch zu helfen durch eine allgemeine Konversion zu den christlichen Wahrheiten, die zugleich die Wahrheiten der Mimetologie seien. Der pragmatische Weg in eine wohlwollende und gewaltlose Koexistenz, ich habe es angedeutet, führt – ohne daß wir den Wert der symbolischen Versöhnungshöhepunkte verkennen – viel eher über eine gegenseitige Desinteressierung und Defaszination. Erst wenn die Loslösung voneinander geschehen ist, können all die guten und nützlichen Dinge in Gang kommen, die wir mit zeitgenössischen Kardinalwörtern wie Kooperation und Vernetzung bezeichnen.
    Wenn Deutsche und Europäer für die übrige Welt einen Rat hätten, besonders für die heiß voneinander faszinierten Duellanten auf den aktuellen Konfliktbühnen: Indien und Pakistan, Israel und seine Nachbarn, die Islamisten und die

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