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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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gemacht hätte; aber daß basale Ich-Bildungen im Imaginären nach diesem Modus die universelle Regel wären, kann nur behaupten, wer die eine Extravaganz durch eine zweite stützt. Dies heißt die Psychologie selbst in den Dienst der Psychose stellen. Schon früh hat sich Lacan einem Urpsychose-Dogmatismus ausgeliefert, der seinen Motiven nach nicht psychoanalytischen, sondern kryptokatholischen, surrealistischen und paraphilosophischen Interessen verpflichtet war. Seiner Tendenz und Tonart nach ist Lacans epatantes Theorem vom Spiegelstadium eine Parodie auf die gnostische Lehre von Befreiung durch Selbsterkenntnis; nach problematischem Vorbild wird hier die Erbsünde durch die Erbtäuschung ersetzt, ohne daß je deutlich würde, ob die Täuschung etwas sei, was besser zu konservieren oder zu überwinden wäre. Es sei in jedem Fall die anfängliche Selbstverkennung, die den Subjekten so unentbehrliche wie verhängnisträchtige Trugbilder ihrer selbst zuspielte – Lacan sprach gelegentlich von der »orthopädischen« Funktion des primären Trugbildes. Wer also könnte ohne das Rückgrat der Selbsttäuschung psychisch integer überleben – und wer soll ein Interesse daran haben, es dem Subjekt zu brechen? Zugleich soll aber die Täuschung sein, was sie ist – ein Trugbild, das durchschaut werden muß, sofern von ihm selbstgefährdende Verlockungen ausgehen. Sich selbst erkennen oder nicht erkennen – das ist hier die Frage. Um so schlimmer für die, denen niemals aus einem angeblichen Imaginären – und erst recht nicht aus einer realen Liebe – das glaubwürdige Bild des eigenen Ganz-Seinkönnens entgegenkam.
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    1 Vgl. Jacques Lacan, Écrits, Paris 1966, S. 93-100; Deutsch in: Schriften I , Frankfurt am Main, 1975, S. 6-70.

Sartre
    Drei Jahrzehnte nach seinem Tod am 15. April 1980 erscheint Jean-Paul Sartre bereits als eine monumentale Gestalt der neueren Philosophie- und Literaturgeschichte. Er, der Mann der Wörter und der Bücher, hat sich zu seinen Ahnen versammelt, den Klassikern, den Unsterblichen, den festgestellten Autoren. Nur der Tod, scheint es, konnte ihn daran hindern, sich zu verjüngen; erst die Klassizität nahm ihm die Möglichkeit, sich weiter zu widersprechen. Er war verliebt wie kaum einer in die Freiheit, sich selbst zu mißfallen. Seine Lebensgeste, gefährlich für einen Philosophen, berauschend für ihn selber und seine Leser, war der ständige Aufschwung, die Losreißung vom eigenen Gewordensein; als Schreibender schrieb er immer nur die neue Seite. Zu einem Genie der analytischen Biographie wurde er, in fremder wie in eigener Sache, weil er in jedem Bewußtsein den Punkt ertastete, an dem Menschen zu stolz sind, um eine Vergangenheit zu haben. Unaufhörlich dachte er über die Entbindung von der Schwere der Geschichte nach; er spürte mit einer Schärfe, die ihn zu einer Art Weltgewissen erhob, daß es den Menschen entehrt, müde, eingeschlossen und mit sich selbst identisch zu sein. Seine Philosophie ist ein Kampf gegen die Obszönität, die bürgerlich bequeme Entfremdung; er zieht ins Feld gegen den in die Wirklichkeit eingeklebten, den fertigen Menschen. Es geht darum, kein Ding zu sein: on a raison de se révolter ; wer sich auflehnt, hat recht. Erklärbar nur aus seiner Freiheit, ist der Mensch das Wesen ohne Entschuldigung.
    Im zusammenfassenden Rückblick erscheint Sartre heute als vorläufig letzter Heros in einer Reihe gewaltiger europäischer Freiheitsphilosophien. Seit der junge Fichte die Standarte der Subjektivität an sich gerissen und mit manischem Schwung gegen sein, wie er meinte, vollendet sündhaftes Zeitalter vorangetragen hatte, ist die Kette der Denker nicht abgerissen, die das Wesen des Menschen als Freiheit auslegten. Wie seine Vorgänger begriff Sartre den Menschen im Herd seines Bewußtseins als jenes unruhige Unding, das sich, bei steigender Selbstklärung, immer radikaler in seine Undinglichkeit versenkt. Mensch sein heißt für ihn, sich als aktives Nichts, als lebendige Bodenlosigkeit übernehmen. Daß Subjektivität Abgründigkeit meint – das schreckte Sartre weniger als die meisten seiner Vorgänger in dieser Entdeckung. Selbst der resolute Fichte hatte seinen Aufweis der bodenlosen Subjektivität zuletzt damit zu überwinden versucht, daß er die eigene Spontaneität in das Ausdrucksleben einer Gottheit, die alles tut, einstellte; Friedrich Schlegel, der Meister-Ironiker unter den romantischen Subjektivisten, konvertierte zu der katholischen

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