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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der Basis mutwilliger und pathetischer Falscheinschätzungen der frühen dyadischen Kommunikation zwischen dem Kind und seinem Ergänzer-Begleiter, der, von den prä-natalen Supplementierungsmedien abgesehen, in der Regel die Mutter ist. Das eigene Spiegelbild kann nämlich als solches nichts in den »Selbst«befund des Kindes einbringen, was nicht in diesem schon längst auf der Ebene von vokalen, taktilen, interfazialen und emotionalen Resonanzspielen und deren inneren Sedimenten angelegt wäre. Vor jeder Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild »weiß« ein nicht-vernachlässigtes Infans sehr gut und sehr genau, was es heißt, ein unversehrtes Leben im Inneren eines tragend-enthaltenden Duals zu sein. In einer hinreichend wohlgeratenen psychischen Zwei-Einigkeitsstruktur taucht die bildliche Selbstwahrnehmung bei dem Kind, das okkasionell seine Spiegelung in einem gläsernen, metallischen oder wässerigen Medium bemerkt, als erheiternde, neugierig machende zusätzliche Wahrnehmungsschicht über einem bereits dichten, vertrauenspendenden Gewebe von Resonanzerfahrungen auf; keineswegs erscheint das Bild im Spiegel als die erste und allesüberflügelnde Information über das eigene Ganz-Sein-Können; es gibt allenfalls einen initialen Hinweis auf das eigene Vorkommen als kohärenter Körper unter kohärenten Körpern im realen Sehraum. Aber dieses integre Bild-Körper-Sein bedeutet fast nichts gegenüber den prä-imaginären, nicht-eidetischen Gewißheiten von sinnlich-emotionaler Dual-Integrität. Ein Kind, das in einem hinreichend guten Kontinuum heranwächst, ist über die Gründe seines Enthaltenseins in einer Erfüllungs-Form längst aus anderen Quellen ausreichend unterrichtet. Sein Interesse an Kohärenz ist weit vor der spiegeleidetischen Information mehr oder weniger befriedigt. Es lernt durch sein erblicktes Spiegelbild keine radikal neue, exklusiv im Visuell-Imaginären fundierte Glücks- und Seinsmöglichkeit kennen. Im übrigen bleibt zu beachten, daß vor dem 19. Jahrhundert die meisten Haushalte Europas keine Spiegel besaßen, so daß schon unter dem schlichtesten kulturgeschichtlichen Aspekt das Lacansche Theorem, das sich wie ein überzeitlich gültiges anthropologisches Dogma gebärdet, gegenstandslos erscheint.
    Ist freilich das Resonanzspiel zwischen dem Kind und seinem ergänzenden Gegenüber durch Ambivalenzen, Vernachlässigungen, Sadismen belastet, so wird sich im Kind natürlich eine Neigung anbahnen, sich an die dünnen Momente positiver Ergänzungserfahrung zu klammern – seien es prekäre Freundlichkeiten der Bezugspersonen, seien es autoerotische Rückzugsträume, seien es Identifizierungen mit den unverwundbaren Helden von Märchen und Mythen. Ob der frühe Anblick des eigenen Bildes im Spiegel psychotischen Kindern auf der Schwelle von der Säuglings- zur Kleinkindzeit wirklich zu imaginären Auferstehungen durch optisch gestützte Integritätsphantasmen verhilft, ist eine empirisch völlig ungeklärte Frage. Der von Lacan überhöhte Sonderfall, daß das werdende Subjekt sich aus sich heraus ins Bild stürzt, um dem gespürten Mißverhältnis in der eigenen zerstückelten Haut zu entgehen und in der Bild-Welt etwas trügerisch Ganzes zu werden, stellt jedenfalls, sollte er je eine kasuistische Realität besitzen, nur einen pathologischen Grenzwert dar. Seinen Sitz im Leben könnte er nur in verelendeten Familienstrukturen und in Milieus mit einer Neigung zu chronischer Säuglingsvernachlässigung haben. Für jede Ich-Gründung, die sich so über die Flucht in die Bild-Illusion der Intaktheit vollzogen hätte, ließe sich in der Tat jene paranoide Labilität vorhersagen, die Lacan, von seiner Selbstanalyse ausgehend, zu Unrecht als allgemeines Merkmal der Psyche in den Kulturen aller Zeiten herausstellen wollte. Immerhin wäre, wenn auf dem Grund eines Selbst sich wirklich überall ein selbstverblendendes Imaginäres dieses Typs finden ließe, auch schon erklärt, warum das Subjekt in einem Lacanschen Universum nur im Symbolischen sein Heil oder zumindest seine Ordnung finden sollte. Vor einer konstitutiven Psychose rettet nur die Unterwerfung unter das symbolische Gesetz. Aber was ist das, wenn nicht die Fortsetzung des Katholizismus mit scheinbar psychoanalytischen Mitteln? Gewiß wird niemand Verletzungen von überall her so rasend hellsichtig wittern wie ein Subjekt, das sein Ganz-Sein-Können von der Verteidigung phantastisch überspannter Hochglanzbilder des eigenen Ich abhängig

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