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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der mediologischen Intuition Debrays zu verdanken, wenn wir jetzt explizit die Frage stellen können, dank welcher Medien Gott reisefähig wurde. Die Antwort hierauf finden wir in einer inspirierenden Neudeutung der jüdischen Sezession von der ägyptischen Welt. Sie hat zur Voraussetzung, daß in Debrays Begriff der Medialität das Moment der Transportabilität mitgemeint ist. Die Wissenschaft von den Religionen wird eine Teildisziplin der Transportwissenschaft. Die Transportwissenschaft ihrerseits – oder die politische Semio-Kinetik – wird eine Teildisziplin der Schrift- und Medientheorie. Die Mediologie liefert das nötige Werkzeug, um die Bedingungen der Möglichkeit von »Entstellungen« zu verstehen. Entstellung erkennt man jetzt nicht nur als einen Effekt der Schriftoperationen, wie ihn die Dekonstruktion erklärt hat, sondern mehr noch als Resultat der Verbindung von Schrift und Transport.
     
    Wir sind somit in der Lage, die Konstellation der Begriffe différance und »Entstellung«, von der oben die Rede war, in einem veränderten Licht zu betrachten. Wenn die »Entstellung« einer Sache, wie Freud nahelegt, nicht mit einer bloßen Umbenennung, sondern auch mit einer Umstellung, das heißt einer Verschiebung ihrer Lage im geographischen und politischen Raum, einhergeht, dann muß man die differierende Tätigkeit wohl oder übel als ein Transportphänomen verstehen. Wie das im einzelnen zu denken ist, geht äußerst anschaulich aus dem Archetypus aller Transportgeschichten hervor, dem Bericht über den Aufbruch Israels aus Ägypten. Die biblische Exoduserzählung mag vieles im dunkeln lassen – etwa die Frage nach der Herkunft des Würgeengels, der in der kritischen Nacht die Häuser der Ägypter heimsucht und an den lammblutbemalten Pfosten der jüdischen Hütten vorbeigeht –, aber sie teilt zweifelsfrei mit, wie hier das erste schlechthin heilsbedeutsame Transportabenteuer der älteren Menschheit inszeniert werden sollte. An den Mythos des Auszugs ist der Mythos der totalen Mobilisierung geknüpft, bei welcher ein ganzes Volk sich in eine fremde bewegliche Sache verwandelt, die sich selbst entführt. In diesem Moment werden alle Dinge unter dem Gesichtspunkt ihrer Transportabilität reevaluiert – auf die Gefahr hin, alles, was für menschliche Träger zu schwer ist, zurücklassen zu müssen. Die erste Umwertung aller Werte bezieht sich somit auf die Gewichte. Ihr fallen, wie Debray in einer stimulierenden Interpretation darlegt, in erster Linie die schweren Götter der Ägypter zum Opfer, die aufgrund ihrer steinernen Unbeweglichkeit nicht auf Reise gehen können. Wenn das Volk Israel sich von da an in eine theophorische Entität verwandeln konnte, auf eine litterale Weise omnia sua secum portans , so deshalb, weil ihm die Umcodierung Gottes vom Medium Stein auf das Medium der Schriftrolle geglückt war – Debray sagt hierzu:
    »Du coup, le divin change de mains: des architectes, il passe aux archivistes. De monument, il devient document. L’Absolu recto verso, c’est une dimension de gagnée, deux au lieu de trois. Résultat: une sacralité plane (miraculeuse comme un cercle carré). ... Voilà reconciliés l’eau et le feu: mobilité et loyauté, itinérance et appartenance. ... Avec un Absolu en caisse, un Dieu coffré, l’endroit d’où l’on vient compte moins que celui ou l’on va, le long d’une histoire dotée de sens et de direction. Sans cette logistique, la flamme monothéiste aurait-elle pu survivre à tant de déroutes?« 9
    Halten wir fest, daß an dieser Stelle das Wort »überleben« wiederkehrt, von dem wir gesehen haben, daß es zu den Leitbegriffen des dekonstruktiven Problemfelds gehört. Wenn hier von einer Flamme die Rede ist, die auf Papier tradiert werden will, begreifen wir unmittelbar, wie riskant die Operation sein muß, durch welche das Ewige künftig an das Vergängliche gebunden wird, indem das Sterbliche zum Vehikel des Unsterblichen avanciert. Der Abschied von der Welt der versteinerten Transzendenzen zog eo ipso die Trennung von den Pyramiden nach sich, die den großen Toten als Immortalisierungsmaschinen dienten. Wenn also die jüdische Verschriftlichung Gottes seine Übersetzung ins transportable Register mit sich brachte, liegt es nahe zu vermuten, es könnte dem jüdischen Volk auch die Übersetzung des Archetypus Pyramide in ein tragbares Format gelungen sein – vorausgesetzt, es habe postexodal noch ein Bedürfnis nach der Pyramide empfunden. Hierzu

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