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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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müde. Mir ist alles egal, was die Leute sagen und so. Verstehst du? Ich bin auch müde, so schrecklich müde. Ich will meinen Kopf in deinen Schoß legen, und – vergib mir – ich will dich wieder küssen. Ich will alles vergessen, was vorher war. Ich will, daß unsere Kinder in diesem Land aufwachsen, freie Kinder in einem freien Land. Aber du entscheidest. Sag nicht ja, nur weil du hier bist und nicht nach Hause gehen kannst. Sag ja, wenn du mich liebst – verstehst du? Daran glaube ich. Du mußt mich lieben.«
    Sie drückte seine Hand stärker, dann ließ sie unvermittelt los und sprang auf, leichtfüßig, ein Mädchen, das ohne Schuhe aufgewachsen war. Sie verschwand über den Rasen.
    Er glaubte, daß sie vor Freude so leicht über das Gras hüpfte, doch es war ein rasend schneller Abschied ohne jede Zeremonie.
    Am Morgen war sie verschwunden. Ihr kleines Kleiderbündel, ihr Plastikkamm, das Niemstöckchen, mit dem sie sich die Zähne putzte. Ihr zweiter Sari, der am Morgen noch zum Trocknen auf der Wäscheleine gehangen hatte.
    Er machte sich auf die Suche nach ihr. Fast gegen seinen Willen machte er die ganze Reise zurück in ihr Dorf, nahm den Bus nach Mymensingh und fuhr den Rest des Weges mit der Rikscha. Wir haben sie nie wiedergesehen, sagte eine alte Frau, wozu sie Betelsaft aus dem Mundwinkel ausspuckte. Das Dorf war nicht mehr schön, die Hütten wirkten in der zunehmenden Hitze heruntergekommen und staubig. Er kehrte in die Stadt zurück und lief ziellos durch die Straßen, wo er Unbekannteansprach, ob sie ein junges Mädchen mit braunen Augen gesehen hätten, das allein unterwegs war. Alle jungen Mädchen, die allein unterwegs waren, hatten braune Augen. Wie hieß ihr Vater? Ein Mädchen hatte sich im Dhanmondi Lake ertränkt. Das hätte sie sein können. Als er zum Leichenschauhaus kam, war es schon zu spät und der Leichnam war bereits abgeholt worden. Sie saß in einem Bus an die Grenze. Oder sie hatte eins der Flugzeuge bestiegen, mit denen die pakistanische Armee nach Islamabad zurückgebracht wurde. In dem Flugzeug waren auch Frauen? Unsere Frauen? Ja, es waren Frauen dabei. Die Ehe war ihnen versprochen worden. Sie hätte dabeisein können.

    »Bhaiya«, fragte Maya sanft, »war das Kind von dir?«
    Er sprang auf und warf dabei eine Bücherkiste um. »Wie kannst du mich so etwas fragen?«
    »Das wäre ja nichts Schlimmes.«
    »Ich habe sie nicht angefaßt, ist das klar? Ich habe mich geweigert, sie anzufassen. Nach dem, was ihr zugestoßen ist.« Er zitterte, und seine Arme hingen kraftlos herunter. »Und du hast einfach diese Operation an ihr gemacht, ohne Ammu oder mich zu fragen?«
    »Aber ich hab’s ja nicht getan, Bhaiya. Es kam nicht dazu – sie hat es sich anders überlegt.«
    Er fing an zu weinen. Sie sah, wie ihm die Tränen in die Augen traten, und er wandte den Kopf ab.
    »Du hast gedacht, ich hätte nach der Befreiung nur meinen Spaß gehabt. Aber die Zeit damals war blutgetränkt, Sohail, für uns alle.«
    Er schüttelte die Hände in ihre Richtung, als seien sie naß. »Aber ich habe getötet, Maya. Ich habe getötet.«
    Natürlich mißverstand sie ihn. »Es ist nicht so schlimm, Bhaiya, es war richtig so. Es war ein gerechter Krieg, ein notwendiger Krieg. Für uns und unsere Freiheit.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte es nicht tun. Aber ich war so wütend.«
    »Wenn sie mir ein Gewehr in die Hand gedrückt hätten, hätte ich ihnen in die Knie geschossen und sie langsam sterben lassen.«
    »Er war unschuldig.«
    Keiner von ihnen war unschuldig. Das sagte sie ihm.
    »Wenn du unbedingt über Rettung reden willst – Silvi hat mich gerettet. Du warst zu beschäftigt damit, ungeborene Kinder umzubringen.«
    Er hatte sich also entschieden. Für seine Frau und eine Zukunft ohne Bücher. Bei dem Gedanken kochte ein lodernder, rasender Zorn in Maya hoch. »Wenn du diese Bücher in Kisten packst, dann hole ich sie wieder raus und lege sie offen vor dich hin. Jedes Buch, das du wegwirfst, packe ich wieder aus und lege es dir vor die Tür. Ich lese sie dir laut vor. Weißt du noch, wie Ammu dir früher aus dem Koran vorgelesen hat? Ich mache genau dasselbe. Ich werde die Bücher immer wieder zu dir zurückbringen, bis du sie nicht mehr ignorieren kannst.«
    Seine Hand steckte in einer Kiste. Langsam richtete er sich auf. »Dann werde ich etwas anderes mit ihnen tun müssen«, sagte er leise.
    Er wird sie weggeben, dachte sie. Er wird sie alle weggeben. Verdammt. Sie schlüpfte

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