Mein fremder Bruder
geordnet. Mit weit auseinanderstehenden Augen und einer Wunde in der Stimme. Er fragte, ob sie wohl irgendwann einmal nach Dhaka kommen und ihn besuchen würde. Sie waren jetzt schon recht nah, nur noch wenige Kilometer entfernt.
Sie kamen an den Rand des Dorfs, das genauso aussah, wie sie es beschrieben hatte: Ein baumbestandener Flecken, in dessen blaßgrünem Schatten saubere Hütten aus Lehm und Stroh standen. Runde Kuhfladen, in denen die Handabdrücke der Sammler zu sehen waren, klebten wie Muscheln an den Außenwänden. Ein Teich. Alles sehr still, der Nebel hing tief und schluckte den Ruf des Koel und das Plätschern des Wassers.
Er schrieb ihr seine Adresse auf ein Stück Papier, obwohl er wußte, daß sie nicht lesen konnte, obwohl er wußte, daß sie eingehend untersucht und beäugt werden würde. Sie würde den Zettel ins Feuer werfen. Sie würde nie kommen.
Er legte die Hände an die Stirn und verabschiedete sich auf förmliche Art und Weise von ihr. Es war Piya, die dicht zu ihm hintrat, ihre nach Wasser riechende Hand an seine Wange legte. Sie reckte das Gesicht zu ihm hoch und küßte ihn leicht auf den Mund, mit Lippen, die so rauh wie die Schale an einem Reiskorn waren.
Sie hatte ein paar Worte Englisch gelernt. See you again , sagte sie und machte die Entfernung mit diesen abgehackten, bemühten Silben nur noch größer.
Und dann kam sie tatsächlich. Sie kam und verbrachte Stunden mit Sohail im Garten, wo sie über alles und nichts redeten. Die Erinnerung an den Krieg begann zu verblassen. Bis zu jener Nacht – jetzt weiß er auch, daß es die Nacht war, nachdem Piya zu Maya in die Klinik gegangen war, aber für ihn war es ein Tag wie jeder andere. Er war in die Kaserne gegangen, um seine Waffe abzugeben. Während der letzten Kriegswochen hatte er auch eine Uniform mit einem grün-roten Abzeichen auf dem Ärmel bekommen. In der Kaserne sah er die Kameraden aus seinem Regiment wieder, Farouq und Shameek und Kona, die sich alle entschieden hatten, Berufssoldaten zu werden. Sie waren nicht überrascht, daß er aus der Armee austrat; er sei ihnen nie wie der geborene Soldat vorgekommen. Ohne Ziel, für das gekämpft wurde, hatte er dort nichts mehr zu suchen. Er hörte sich die offiziellen Reden an und wurde dann ehrenvoll aus der Armee Bangladeschs entlassen. Er war in seiner Uniform nach Hause zurückgekehrt. Er könne sie später zurückgeben, hieß es.
Es war schon spät und im Haus alles still, alles schlief bereits, dachte er jedenfalls, bis er Piya im Garten bemerkte. Er konnte sie im Dunkeln kaum erkennen, aber sie war es, unmißverständlich, ihr Rücken so gerade wie an dem Tag, als sie aus dem Dorfteich stieg.
»Heirate mich«, flüsterte er in die Dunkelheit.
Sie drehte sich um, doch ihr Blick ging zu dem, was hinter der Gartenmauer lag. »Wer wohnt da?« fragte sie und zeigte auf das zweistöckige Haus.
»Niemand. Wir müssen neue Mieter suchen.«
»Es gehört euch?«
»Das hat Ammu bauen lassen. Nach dem Tod meines Vaters haben wir von der Miete gelebt.«
»Es ist ein sehr großes Haus.«
»Zwei Stockwerke.«
»Warst du schon mal drin?«
»Natürlich. Willst du es sehen?« Er öffnete das in die Mauer eingebaute kleine Tor.
Selbst im schwachen Licht des Halbmonds ging sie mit sicherem Tritt durchs Tor und auf den Rasen dahinter. Sie lief die drei Eingangsstufen hinauf und wartete vor der schweren Doppeltür auf ihn.
»Es ist abgeschlossen«, sagte sie.
»Ja, natürlich. Das habe ich ganz vergessen. Ich habe den Schlüssel leider nicht.«
Sie spähte, die Hände ums Gesicht gewölbt, zum Fenster hinein.
»Piya«, sagte er, »ich möchte dir etwas sagen.«
»Ich auch.«
»Ich will dich heiraten.« Er versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, aber es war zu dunkel. »Ich will, daß wir heiraten – was meinst du?«
»Wenn du es so wünschst«, antwortete sie und setzte sich auf die oberste Stufe.
»Willst du es denn auch?«
»Was werden die Leute sagen?«
»Das ist doch egal.«
»Sie werden sagen, daß ich es nur auf deine Sachen, auf das Haus hier abgesehen habe.«
»Aber das ist doch egal. Du liebst mich, oder nicht?«
Sie sagte nichts, sondern saß nur ganz reglos im gelblichen Mondschein da. »Wenn du willst, kann ich deine Frau werden. Aber ich bin kein guter Mensch.«
»Was dir zugestoßen ist – das ist nicht deine Schuld.«
»Ich bin so müde«, sagte sie.
Er setzte sich neben sie und verschränkte seine Finger mit ihren. »Das macht nichts, ich bin auch
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