Mein fremder Bruder
abgenutzter Traum. Er würde sich selbst sehen, gespiegelt in ihren Augen – er würde die Absurdität seines jetzigen Lebens sehen. Er würde erkennen, wie häßlich es war, seiner eigenen Familie den Rücken zuzukehren, würde die Grausamkeit gegenüber seinem Sohn einsehen. Seine Religion würde Risse bekommen, sein Glaube wäre erschüttert – nicht der Glaube an den Allmächtigen, den wollte sie ihm ja nicht nehmen (oder vielleicht doch, aber das wollte sie sich nicht eingestehen), sondern an die Macht, die ihn ihr weggenommen und ihr einen Fremden zurückgegeben hatte.
Er würde sich wieder an sich selbst erinnern, würde aufwachen und mit dem Leben weitermachen, das sie sich für ihn ausgedacht hatte. Und er würde ihr vergeben, daß sie ihn anders haben wollte, als er war.
Ein Mann wird nicht nur einmal geboren, würde sie sagen, er kann auch in die Welt zurückkehren.
Die Jahre verschwanden.
Sie war bereit, alles zu vergessen.
Ich will wieder ganz dein sein, Bruder. Die Leute von oben sind mir egal, und es macht mir auch nichts aus, daß du unseren Krieg vergessen hast und unsere Jugend, dieses Leben bedeutet dir nichts mehr, in Ordnung, du hast Ghalib und unseren geliebten Shakespeare aufgegeben, auch das kann ich akzeptieren, und daß es mir bis ins Herz hinein weh tut, daß du mich vergessen zu haben scheinst. Wenn du das alles hinter dir lassen willst, dann sage ich ja, ich nehme es hin, ich vergebe dir, verzeih du auch mir, und dann fangen wir wieder von vorne an.
»Schule kommt nicht in Frage.«
Nicht in Frage. Nicht . In. Frage. Das Brennen fing in ihrem Bauch an und stieg dann die Kehle hoch. Sie bekam keine Luft mehr. Wie dumm sie gewesen war, sich vorzustellen, daß sie nur an dieses Ufer zu treten brauchte, und sie würde ihren Bruder zurückbekommen. Weiter war der Traum nichts gewesen: Eine Fata Morgana. Ihre Beine zuckten vor Zorn. Und doch wehrte sie sich gegen das Bedürfnis, einfach wegzurennen. Sie war oft genug weggerannt. Denk an den Kleinen, ermahnte sie sich. Schluck die Enttäuschung herunter, und denk an den Kleinen.
Sie unterdrückte die aufsteigende Wut und versuchte zu verhandeln. »Von mir aus, dann eben nicht. Darf ich ihm denn wenigstens ein paar Sachen beibringen – Rechnen, das Alphabet? Natürlich nur, wenn er oben nicht gebraucht wird.« Damit würde sie sich fürs erste zufriedengeben. Ein kleines Zugeständnis nach dem anderen.
»Na gut«, sagte Sohail schließlich. »Ich denke darüber nach.« Er beugte sich herunter, um sie zu umarmen, und sie wußte, daß ihr Treffen damit beendet war. Sie eilte davon, während sie ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren strich, und klammerte sichan ihren kleinen, schrecklich kleinen Sieg. Sie würde Zaids Privatlehrerin werden, und wenn Sohail sah, wie schnell der Junge lernte, würde er sich überzeugen lassen, ihn auf die Schule zu schicken. Um ihren kleinen Traum konnte sie später trauern, nachts, wenn sie Sohails ernstes, verschlossenes Gesicht wieder vor sich sehen würde. Mehr konnte sie momentan nicht tun, und sie stürzte sich voller Ungeduld, ihrem kleinen Zögling von den guten Neuigkeiten zu erzählen, ins Gedränge.
Jeden Tag zur Mittagszeit kam Zaid für mehrere Stunden nach unten. Er konnte ungestört Mittag essen, während Maya ihm das Alphabet beibrachte. Als Belohnung zeigte sie ihm hinterher ein paar neue Kartenspiele. Er mogelte und ließ Karten unter dem Tisch oder im weiten Ärmel seiner Kurta verschwinden. Manchmal war Mayas Portemonnaie leichter, als es hätte sein sollen, aber sie verriet Ammu nichts davon. Es waren ja nur ein paar Münzen, es war ja nur Schummelei bei Gin Rummy und 21. Sohail ging auf Missionsreise nach Nepal, und sie sah ihn nach dem Treffen am Fluß nicht mehr. Sie versuchte wieder, in Rajshahi anzurufen, aber die Leitung war immer besetzt. Sie schrieb noch einen Brief an Nazia und flehte um ein Lebenszeichen. Sie verbrachte einen weiteren Tag im Gartenschuppen, auf der Suche nach Zeitungsausschnitten aus dem Krieg, wobei sie auf eine schreibmaschinengeschriebene Seite vom September 1971 stieß. Es war einer der Artikel, die sie während des Krieges geschrieben hatte – niemand hatte ihn veröffentlichen wollen, fiel ihr wieder ein, und sie mußte jetzt lächeln, als sie die Überschrift las: »Die Welt schaut weg, während Bangladesch verblutet: Ein dringendes Hilfegesuch« von Miss Sheherezade Maya Haque.
1984
Mai
Es dauerte eine Weile, bis sie das schäbige Gebäude in
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