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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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auf einmal war alles still und kein Anzeichen eines Polizeieinsatzes mehr zu sehen. Maya drehte sich um und umarmte Ammu atemlos. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.
    »So hast du früher auch ausgesehen«, sagte Rehana, die ihre Gedanken erahnen konnte.
    Maya trocknete sich die Augen. »Wie denn? Jung und unbekümmert?«
    »Als ob du dafür geboren wärst, auf der Straße rumzumarschieren.«
    Sie gingen zu Fuß zurück zum Bungalow. Um achtzehn Uhr schaltete Maya die Nachrichten an. Eine Nachrichtensprecherin im züchtig festgesteckten Sari las die Meldungen vor. Der Diktator hatte verkündet, daß er ein starkes Bangladesch aufbauenwürde. Der Finanzminister gab bekannt, auf für das Land nachteilige Handelsbeziehungen mit Indien werde man sich nicht einlassen. Die Proteste, die Prügelorgien und Festnahmen wurden mit keinem Wort erwähnt.
    »Was für eine idiotische Nachrichtensprecherin! Schön rot angemalt hat sie ihren Mund, aber raus kommen nichts als Lügen! Ich weiß nicht, warum du diesen blöden Fernseher überhaupt hast.« Maya schlug mit der flachen Hand auf den Senderwahlknopf.
    »Laß das an«, sagte Ammu. Sie bügelte einen Sari und lehnte sich mit ganzer Kraft auf die knittrige Bordüre am Rand.
    »Ich fasse es nicht, daß du diese Propaganda glaubst!«
    Rehana stellte das Bügeleisen hochkant und richtete sich auf. »Und was glaubst du, wer den ganzen Tag über mit mir geredet hat? Bevor du zurückgekommen bist? Niemand. Manchmal hab ich Sufia gebeten, beim Abstauben ein bißchen zu singen, irgendein Volkslied, nur damit ich wußte, daß jemand da ist. Ich habe den Fernseher gekauft, weil es hier sonst so still ist, daß ich die Ratten höre, die ins Haus zu kommen versuchen! Also erzähl mir bloß nicht, ich soll das ausmachen. Ich sehe fern, solange ich will.« Und sie schlug ebenfalls mit der flachen Hand auf den Knopf, woraufhin das Bild mit einem Satz wieder da war und dann wieder verschwand. Sie drehte an der Antenne. »So ein Mist«, sagte sie, während es auf dem Bildschirm flackerte. Schließlich hatte sie den Sender wiedergefunden, lehnte sich, ohne das Bügeleisen aus der Steckdose zu ziehen, an das Sofa und hörte sich den Wetterbericht an.
    »Ich will nicht mehr zurück ins Dorf«, sagte Maya. Da, sie hatte es gesagt. Nur ein Satz. So einfach war das. Maya merkte, wie ihr vor Erleichterung innerlich ganz warm wurde. Sie würde nicht aufhören, Briefe nach Rajshahi zu schicken, und vielleicht würde sie sogar mal wieder hinfahren, wenn das Wetter besser und die Erinnerung an den schwarzen Tag verblaßt war. Nur auf Besuch, bei der Tochter des Postbeamten vorbeischauen, ein paar Antibiotika austeilen. Aber sie würde die Vorstellung aufgeben, sie könnte zurückkehren. Sie würde hier bleiben und ein Leben mit dem anfangen, was übrig war. Nazia würde sie nicht vergessen; Nazias Geschichte, wie sie gewagt hatte, im Teich zu baden, und die Peitschenhiebe, mit denen sie diesen Wagemut bezahlt hatte, würden unvergessen bleiben. Schwarz auf weiß würde es aufgeschrieben werden; die Leser würden wissen, daß ihre Freiheit so leicht zu zerstören war wie die Haut an Nazias Beinen. Aber sie würde hier bleiben, bei ihrer Mutter, den Diktator vor der Tür, den kleinen Jungen unter ihren Fittichen.
    Ammu hatte Tränen in den Augen. »Es ist dein Haus«, sagte sie. »Bleib, solange du willst.« Sie umarmten sich noch einmal, und dann waren die Nachrichten vorbei, und Dallas fing an. Maya erklärte sich bereit, es mit Ammu zusammen anzuschauen, wenn sie ihr die Handlung erklärte. »Na gut«, erwiderte sie, »aber du mußt ein bißchen Geduld haben, es ist nämlich ziemlich verwickelt.«
    Als Ammu die Füße auf den Couchtisch hochlegte, bemerkte Maya, daß ihr Bauch seltsam aufgebläht wirkte. »Was ist das denn?« fragte sie und klopfte ihrer Mutter auf den Bauch.
    »Ach, nichts«, sagte Rehana und schob Mayas Hand weg.
    »Laß mal sehen.«
    »Ach, laß doch, Beta. Ich werde halt ein bißchen dick, na und?« Und sie beugte sich wieder zum Fernsehgerät vor und drehte es lauter.

    In dieser Nacht lag Maya wach und dachte an Sohail. Als sie sechs war, und Sohail acht, wurden sie weggeschickt, um bei einer Tante und einem Onkel in Lahore zu wohnen. Ihr Vater war kurz zuvor gestorben, und alle hielten es für besser, wenn sie eine Weile weg wären, um ihrer Mutter Gelegenheit zu geben, sich vom Schock zu erholen und ein neues Leben aufzubauen. Es wurde von einer zweiten Ehe gesprochen,

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