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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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weiteren Kindern. Sie wären nur im Weg.
    Ammu teilte diese Ansicht nicht. Es gab einen Richter und die verlorene Gerichtsverhandlung.
    Zwei Jahre lang wohnten sie in Lahore beim Bruder ihres Vaters, Faiz, und seiner Frau Parveen. In einem riesigen Haus. Sohail und sie hatten eine Ayah, die auf der Veranda vor ihrem Zimmer schlief. Wenn sie etwas wollten, brauchten sie nur auf die Klingel neben dem Lichtschalter zu drücken.
    In manchen Nächten schlüpfte Parveen zu Maya ins Bett und legte ihr sanft die Hand auf die Stirn, weil sie glaubte, daß die Kleine schlief. Maya hörte sie tief seufzen und roch ihren nach Hustensaft riechenden Atem, dann schlief sie zum Klang von Parveens leisem Schnarchen ein.
    Ihre Erinnerungen an diese zwei Jahre bestanden vor allem aus Sohail. Sohail, der im Flugzeug ihre Hand hielt. Sohail, der sich bückte und ihr die Schnürsenkel band. Sohails Taschentuch an ihren Augen. Sohail, der sie ermahnte, in der Schule den Mund zu halten, bis sie genug Urdu sprechen konnte. Sohail, der ihr die Rotis in kleine Stückchen riß und auftürmte, so wie sie das gerne hatte.
    Er war Vater und Mutter und Bruder für sie. Ihr nächster Angehöriger. Ihr einziger Freund.
    Als sie nach Dhaka zurückkehrten, stand ein sehr großes, zweistöckiges Haus dort, wo früher die Hälfte ihres Gartens gewesen war. Ammu machte eine Führung mit ihnen, und ihre Chappals klapperten über den nackten Betonboden. Von dem Balkon oben, der sich wie eine Schlingpflanze einmal rund um das ganze Haus wand, konnte man das Flachdach ihres schäbigen kleinen Bungalows sehen, das Regenwasser, das sich in vermoosten Pfützen sammelte, der grau gewordene Putz.
    Sie konnten nicht in dem großen Haus wohnen. Ammu würde es vermieten und ihnen von dem Geld schöne Sachen kaufen. Es war ihre zweistöckige Lebensversicherung, dieses Haus. Jedesmal wenn Ammu es betrat, flüsterte sie ein Gebet; ständig wischte sie mit einem Staubwedel über das Treppengeländer. Sie streckte die Hand aus und berührte den Türrahmen an der Haustür. Sie sollten es Shona nennen: Shona, als ob es aus reinem Gold wäre.

Zweites Buch
    Jede Seele soll den Tod schmecken

1984
Juli
    »Ich bin froh, daß du dableibst«, sagte Ammu, »dann bist du hier, wenn ich operiert werde.«
    Maya hörte nur halb hin; ihre Hände steckten in einem großen, warmen Teigkloß. Ammu brachte ihr das Paratha-Backen bei; das Geheimnis an der Sache war das Wasser, das kochend heiß sein mußte, wenn es mit dem Mehl vermischt wurde. Sie dachte, ihre Mutter würde von irgendeiner Hochzeit erzählen, oder vom Aqiqafest der Tochter von irgend jemandem. Dann drang es allmählich zu ihr durch. »Wie meinst du das, operiert?«
    »Du hattest recht. Mit meinem Bauch. Ich war beim Arzt. Es ist ein Geschwür.« Sie tätschelte ihren Unterleib. »In der Gebärmutter. Das soll rausoperiert werden.«
    Jetzt konnte Maya auch die leichte Wölbung in ihrer Bauchmitte sehen. Und die Diagnose hatte nicht sie gestellt. Sie wollte die Hände vom Teig befreien, aber Ammu schüttelte den Kopf. »Zuerst die Parathas, dann kannst du mich verarzten.«
    »Wie lange weißt du das schon?«
    »Nicht lange.«
    Maya fing an, den Teig wie eine Wilde zu kneten und verzweifelt in die elastische Wärme von Mehl und Wasser zu greifen. »Das reicht, Maya«, sagte Ammu. »Jetzt mußt du ihn teilen. Bestäube dir die Hände mit Mehl, guck, so.« Rehana riß ein Stück Teig ab, rollte es zwischen den Handflächen und drückte es, die Finger wie eine Tänzerin grazil abgespreizt, zu einer perfekt runden Kugel zurecht, die sie an Maya weiterreichte.
    »Mehr Mehl«, sagte sie und reichte Maya das Nudelholz.
    »Und du hast mir nichts gesagt.« Sie rollte die Kugel aus, drückte, wendete den Teigklumpen und rollte wieder.
    Rehana wischte sich das Mehl von den Händen. »Jetzt weißt du’s ja, und ich wollte nicht, daß du dir unnötige Sorgen machst.«
    »Aber warum? Warum hast du das gemacht, warum hast du das geheimgehalten?«
    Rehana trat hinter Maya und führte ihr die Hände am Nudelholz. »Du machst es zu eckig«, sagte sie. »Ich hab’s dir doch gesagt, das war keine Absicht. Außerdem ist es angeblich sowieso nichts Bösartiges oder so.«
    Die Träume, die Maya in Rajshahi gehabt hatte, die schrecklichen Vorahnungen, die sie überfallen hatten, als der Postbote ihr das Telegramm ausgehändigt hatte. Jetzt wurden sie doch wahr. Sie versuchte sich gegen das Gefühl zu wehren, daß die Vorsehung es so wollte und

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