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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Ammu jetzt sterben mußte, genau wie in ihrem Traum, in ein weißes Leichentuch gewickelt und unter Gebeten und Händen voller Schlamm tief in der Erde begraben würde. Sie bekam keine Luft mehr. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Du bist Ärztin, konzentrier dich lieber darauf, was du tun kannst. Tumore in der Gebärmutter waren die ungefährlichste Art von Geschwüren; sie lagen wie ein Samenkorn im Uterus und wuchsen darin, aber es war einfach, die gesamte Gebärmutter herauszuoperieren. Ammu brauchte sie sowieso nicht mehr. So würde der Eingriff vermutlich verlaufen. Die Gebärmutter würde entfernt werden, und damit hatte sich die Sache. Ende des Alptraums.

    Maya rief sofort ihren ehemaligen Professor, Dr. Sattar, an. Während sie darauf wartete, daß sie von der Telefonzentrale der medizinischen Fakultät durchgestellt wurde, kratzte sie mit dem Fingernagel an einem Stückchen loser Wandfarbe. Dr. Sattar war der beste Chirurg am Krankenhaus; normalerweise mußten die Leute monatelang warten, um sich von seinen vertrauenswürdigen Händen operieren zu lassen. Leicht ungehalten ging er ans Telefon, und sie stellte sich ihm ganz förmlich vor. Sie erinnerte ihn, in welchem Jahr sie das Medizinstudium aufgenommen hatte (»Direkt nach dem Krieg, Sir …«), seinerStimme war jedoch kein Wiedererkennen anzumerken, und er wurde auch nicht freundlicher, erkundigte sich aber nach Details von Ammus Tumor, der Größe und genauen Lokalisation. Maya las aus dem Arztbericht vor, den Ammu ihr ausgehändigt hatte. Und dann erklärte der Professor sich bereit, sie zu behandeln, sie röntgen zu lassen und dann den nächsten Schritt mit ihr zu besprechen. Ja, bestätigte er, vermutlich würde eine Entfernung der Gebärmutter notwendig werden. Er verlor kein Wort über die Risiken oder möglichen Komplikationen oder Überlebenschancen; für ihn war Rehana nur eine Patientin unter vielen. »Rufen Sie meine Sekretärin an, und machen Sie einen Termin mit ihr aus.« Das gefiel Maya an den Chirurgen, sie redeten nie lange um den heißen Brei herum.

    *

    Am Tag vor der Operation erschien Rehanas Freundin Mrs. Rahman an der Tür, einen Teller mit Shemai in der Hand und ihren fünfjährigen Enkel im Schlepptau.
    »Ich habe Surjo eine ganze Woche lang«, sagte sie und hielt den herumzappelnden kleinen Jungen am Handgelenk fest. »Neleema und ihr Mann sind nach Sillong gefahren.« Sie lächelte. Der kleine Junge wollte als erstes den Lilien im Garten die Blüten abreißen.
    »Laß die schön in Ruhe«, schalt Maya ihn. Sie wollte nicht, daß ihre Mutter aus dem Krankenhaus heimkam und ein abrasiertes Blumenbeet vorfand.
    Wenige Augenblicke später kam schon Rehana in einem Sari an die Tür, den Maya besonders gern mochte: Moosgrüne Baumwolle mit einer rosa Paisley-Bordüre. Maya hatte einmal im Scherz gesagt, Ammu sollte ihr den Sari doch vererben, etwas, das ihr jetzt natürlich sofort wieder einfiel, als sie ihrer Mutter zu einem Gartenstuhl half und ihr ein Kissen in den Rücken steckte.
    »Es ist ja nichts Schlimmes«, sagte Rehana zu ihrer Freundin. Der kleine Junge kam auf sie zugerannt und jammerte, eine Feuerameise hätte ihn gebissen. »Mein armer kleiner Schatz«, sagte Mrs. Rahman und küßte die Stelle, an der sich ein rotes Pünktchen zeigte. Surjo lief wieder los und schlug mit einem Stock nach den Insekten, und Rehana fuhr fort: »Es ist wirklich keine große Sache, machen Sie sich bitte keine Sorgen.«
    Mrs. Rahman nickte. »Gott hat alles in seiner Hand. Was dem Menschen auf der Stirn geschrieben steht, ist bereits festgelegt.«
    Alles im Leben damit zu erklären, daß das Schicksal dem Menschen auf die Stirn geschrieben sei, haßte Maya am allermeisten. Sie wollte gerade etwas sagen, erinnerte sich aber in letzter Minute an den Morgen desselben Tages, an dem eine Nachbarin ein Stück Papier geschickt hatte, das den Tumor angeblich verkleinern würde, weil der Heilige der Acht Schnüre daraufgeblasen hatte. Ihre Mutter hatte sie inständig gebeten, ihre Ansichten für sich zu behalten.
    »Wie geht es Neleema und ihrem Mann?« fragte Rehana.
    »Danke, gut. Sie ist wieder in anderen Umständen.«
    »Oh, Alhamdulillah.«
    Mrs. Rahman schwieg schuldbewußt, weil sie ihre guten Neuigkeiten nicht für sich hatte behalten können.
    Maya hatte Zaid in der Küche zurückgelassen, wo er an einem Hühnerschenkel herumnagte. Als sie zurückkam, war er immer noch beim Essen und hatte gelbe Soße an Händen und Mund kleben.

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