Mein fremder Bruder
»Immer hungrig, das arme Kind«, flüsterte Sufia ihr zu.
»Lecker, lecker, lecker«, verkündete Zaid, wobei er den Knochen zwischen den Zähnen knacken ließ und begeistert mit dem Kopf wackelte.
»Jetzt komm mal mit«, sagte Maya und zog ihn hinter sich her nach draußen an den Wasserhahn. Sie schrubbte ihm die Hände mit Seife, während er zusah. »Wann hast du davor zum letzten Mal was gegessen?« fragte sie. Sie hatte ihn vernachlässigt. Bei den vielen Arztbesuchen und dem eisigen Gefühl, daß sie schuld an Ammus Erkrankung war, hatte sie kaum Zeitfür Zaid gehabt. Jetzt wusch sie seine Handgelenke mit einem kleinen Waschlappen ab und versuchte, dem Schmutz beizukommen, der sich in den Falten an seinen Händen abgesetzt hatte. Sie schob seine Ärmel hoch und hielt inne, als sie die kleinen runden Schorfstellen sah, die darunter verborgen gewesen waren. So etwas hatte sie schon einmal gesehen. Würmer? Sie tastete seinen kleinen Bauch ab, der jetzt nach dem Essen rund und prall war, dann zog sie ihn an sich. Als er die Arme um sie schlang, bemerkte sie, daß er nach Erbrochenem roch.
»Hast du heute spucken müssen?«
»Nein.«
Sie war sich nicht sicher, daß er die Wahrheit sagte. »Bring nachher deine Kleider runter«, sagte sie. »Sufia wäscht sie dir.«
Er nickte.
»Und was ist mit dem Abc, weißt du’s noch? A wie?«
Das Blut stieg ihm in die Wangen. »Apfel«, sagte er, krempelte die Ärmel herunter und schüttelte die Beine aus. »Ich muß jetzt weg.«
»Willst du Dadu denn gar nicht Khodahafez sagen? Sie muß ins Krankenhaus.«
Er riß die Augen auf. »Ist sie dann tot?«
»Nein, natürlich nicht. Aber sie bleibt ein paar Tage weg, also komm und verabschiede dich von ihr.«
Sufia servierte Mrs. Rahman gerade Tee im Garten. Der kleine Surjo kam hinter dem Mangobaum hervorgesprungen, ballte die Hände zu Pistolen und schoß damit auf seine Großmutter. »Bumm, bumm.«
Mrs. Rahman tat so, als wäre sie tödlich getroffen.
Zaids Hand in Mayas wurde feucht. »Wer ist das?«
»Das ist der Enkel von Mrs. Rahman. Willst du mit ihm spielen?«
»Nein.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, er ist viel kleiner als du.«
»Ich will aber nicht.« Zaid wollte sich verdrücken, aber Mrs.Rahman hatte ihn schon bemerkt. »Ist das der Kleine von Sohail?«
»Ja«, antwortete Rehana und musterte Zaid schnell. Wenigstens hatte er keine zerrissenen Sachen an.
»Komm doch mal her«, rief Mrs. Rahman ihn zu sich, und als sie sah, wie er zögerte und sich Mayas Hand vor die Augen hielt, sagte sie: »Na komm, ich schenk dir auch ein Mimi.«
Zaid blieb wie angewurzelt stehen, dann ließ er Mayas Hand los und näherte sich ihr ganz vorsichtig.
»Na komm her.« Rehana hatte ihrer Freundin ein wenig von Sohail erzählt, aber Mrs. Rahman war dennoch so schockiert über den Anblick des Jungen, daß der Schreck sich kurz auf ihrem Gesicht abzeichnete. Zaid streckte ihr jetzt die Hand hin, und Mrs. Rahman tätschelte ihm den mit der Gebetsmütze bedeckten Kopf. Sie durchwühlte ihre Handtasche nach dem versprochenen Schokoladenriegel.
»Der gehört mir!« Ihr Enkel kam wie von der Tarantel gestochen herbeigerannt.
»Jetzt sei mal nicht so, mein Schatz, ich habe bestimmt genug für euch beide.« Sie zückte den Schokoriegel, dessen Verpackung mit dem Foto einer Orange geschmückt war, brach ihn entzwei und hielt jedem Jungen eine Hälfte hin.
»Das ist alles meins!« Surjo grabschte sich beide Hälften und stopfte sich die eine davon blitzschnell in den Mund.
»Komm, benimm dich«, sagte seine Großmutter. »Willst du dem Jungen denn nichts abgeben? Nein? Ich kauf dir auf dem Heimweg eine neue Schokolade. Ich kauf dir zwei. Jetzt gib’s dem Jungen. Gut gemacht. Was bist du doch für ein kleiner Engel.«
Surjo schmierte Zaid die halbe Schokolade in die Hand. Zaid starrte den schmelzenden Riegel einen Augenblick an. Dann drehte er sich um, hielt die Schokolade so weit wie möglich von sich weg und entfernte sich langsam, einen Fuß vor dem anderen.
»Khodahafez«, rief Rehana ihm nach. »Wir sehen uns ganz bald wieder.« Zaid drehte den Kopf nach ihr um und nickte einmal, dann trottete er langsam weiter, bis zur Rasenkante, wo er stehenblieb, die Hand an den Mund hob und vorsichtig an dem Schatz in seiner Handfläche leckte.
*
Die Ausgabe des Rise Bangladesh! kam über das Tor hinweggeflogen und landete auf der Veranda. Shafaat hatte ihren Artikel auf Seite drei neben ein langes Traktat über den
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