Mein fremder Bruder
dasPapier gebeugt hielt, daß es aussah, als wollte sie den Worten mit den Augen hinterherjagen.
Als Maya ihr sagte, wie spät es war, reagierte ihre Mutter nicht. Maya streckte den Kopf vor und sah ein wenig von dem, was sie da schrieb.
Sehr verehrter Herr
Mein gnädigster Herr
Lieber Vater
Bangabandhu, ich weiß, daß Sie ein Mann der Gnade sind
»Ich bin ja schon fast fertig«, sagte Ammu und steckte ihre Sachen in eine kleine Lederhandtasche.
»Was schreibst du denn da?«
»Er ist ein sehr bedeutender Mann«, sagte sie, zog eine Schublade auf und holte einen Lippenstift heraus.
»Und was ist das da?«
»Ach, nichts.« Sie schraubte den Lippenstift auf und tupfte etwas auf ihre Fingerspitze. »Ich fühle mich sehr geehrt, daß ich ihn begrüßen darf.«
Maya konnte sich nicht daran erinnern, daß ihre Mutter jemals Lippenstift benutzt hatte. Ammu schien etwas unsicher zu sein, was sie damit tun sollte, jetzt, wo das Rot an ihrem Finger klebte. Ihre Hand zögerte kurz vor ihrem Gesicht, dann landete der Finger auf ihrer Oberlippe, die sie mehrmals betupfte, dann betrachtete sie das Ergebnis im Spiegel.
»Fühlst du dich nicht gut?« fragte Maya; ihre Mutter wirkte ein wenig blaß.
Ammu musterte sie, als hätte sie Maya jetzt erst bemerkt. »Du mußt dir noch mal die Haare kämmen«, sagte sie.
»Von mir aus«, erwiderte Maya und nahm sich die Bürste von der Frisierkommode. »Du warst doch diejenige, die Sohail immer aufgefordert hat, er sollte sich um einen Empfang bei Bangabandhu bemühen.«
Ammu saß wieder vor dem Spiegel und wischte sich den Lippenstift mit dem Taschentuch ab. »Du hast mir nie erzählt, was du da im Rehabilitationszentrum für Frauen wirklich machst«, sagte sie plötzlich.
»Was meinst du damit?« Maya wußte natürlich, worauf sie hinauswollte. Ihre Mutter wollte etwas über die Abtreibungen wissen. Darüber wollte Maya nicht reden, daran wollte sie noch nicht einmal denken. Woher wußte Ammu überhaupt davon? Die Ambulanz war nicht im Zentrum selbst, und die Ärzte und Schwestern hatten zwar nie die ausdrückliche Anordnung bekommen, ihr Tun geheimzuhalten, sprachen aber trotzdem nie darüber.
»Erinnerst du dich an Piya?«
Maya nickte. Natürlich erinnerte sie sich an Piya.
»Sie war schwanger.«
»Ja, ich weiß.«
»Du weißt das?« Ammu stockte, verarbeitete das erst einmal und sprach dann weiter. »Sie wollte – sie wollte es nicht haben. Sie hatte Angst vor dem Eingriff, sie war sich nicht sicher. Sie hat sich an meinem Arm festgeklammert, so –«
Ammu drehte sich zu Maya um und packte sie mit heißen Fingern, die Lippen rot verschmiert, am Ellbogen. »Und dann hat sie gesagt: Bitte hilf mir, ich will nicht. Und ein paar Tage später war sie verschwunden, weißt du. War einfach weg. Warum wohl?«
»Vielleicht hatte sie sich dagegen entschieden.«
Ammu umklammerte Mayas Arm noch fester, und sie sahen einander an. Maya wollte ihr nicht erzählen, was an dem Abend vor Piyas Verschwinden geschehen war. »Vielleicht war es so besser für alle«, sagte Maya.
»Aber verstehst du denn gar nichts?« Ammus Stimme brach, ihre Augen schwammen. »Sie wurde dazu gezwungen. Und sie ist nicht die einzige. Viele der Mädchen wollen so etwas nicht. Aber sie schämen sich, weil ihnen eingeredet wird, daß sie den Samen des Feindes in sich tragen.«
Bangabandhu hatte versprochen, sich dieser Frauen anzunehmen. Er hatte ihnen sogar einen Namen gegeben – Birangona, Heldinnen – und die Männer und Väter aufgefordert, sie genauso zu Hause willkommen zu heißen wie ihre Söhne. Aber die Kinder, die Kinder des Krieges, die wollte er nicht, hatte er gesagt. Das sagte Maya sich jeden Tag wieder, wenn sie den Frauen die Maske übers Gesicht stülpte und sie aufforderte, von hundert rückwärts zu zählen. »Ist es nicht besser, Ma, die Spuren von dem zu verwischen, was mit ihnen geschehen ist? Dann können sie anfangen zu vergessen.«
»Aber die Kinder, Maya, ihre Kinder.« Rehana fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und wandte sich von ihr ab. Mit belegter Stimme sagte sie: »Du bist keine Mutter, du verstehst das nicht.« Sie zerknüllte den Brief und warf ihn weg. »Gehen wir, sonst kommen wir noch zu spät.«
Maya hatte Angst, Ammu würde etwas über die Kriegskinder zu Bangabandhu sagen, aber die Angst war unberechtigt. Ammu verhielt sich höflich und still und beteuerte, was für eine Ehre es sei, ihn kennenzulernen. Nur Maya merkte, daß Ammu dem
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