Mein fremder Bruder
den Wirbeln am langen Hals des Instruments. »Ich glaube, so klingt’s besser«, sagte er. »Probier’s doch mal.«
Sie strich mit dem Daumen über die Saiten. »Klingt schön«, sagte sie.
»Wie früher.«
»Du hast immer so ein schönes Lied gesungen, ein spanisches.«
»Wir haben doch nie spanische Lieder gesungen.«
»Doch, das mit dem ganz langen Namen.«
»Oh!« Er schlug sich aufs Knie. »Du meinst ›Guantanamera‹.«
»Genau, das hat mir immer so gut gefallen.«
»Sohail hat das gern gesungen. Er hat gesagt, das wäre ein Revolutionslied, aber in New York hatte ich einen Freund aus Mexiko, der hat mir den Text erklärt. Es ist ein ganz normales Lied.«
»Wie, normal?«
»Über irgendeinen armen Typen, der sich nach Liebe sehnt.«
»Hast du was gegen Liebe?«
Joy lehnte sich auf dem Sofa zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich habe nur kleinere Vorbehalte. Nichts Prinzipielles, so wie du.«
Sie zupfte an den Saiten herum. »Du hast ja keine Ahnung. Ich will das gleiche wie alle anderen Mädchen auch.« Und in diesem Moment glaubte sie das sogar selbst. Daß sie sich genauso nach Zärtlichkeit sehnte wie der Rest der Welt. Er nahm die Gitarre und klimperte darauf herum.
»Komm her, ich zeig dir die Akkorde«, sagte Joy. Er nahm ihre Finger und setzte sie auf die Saiten. »Du mußt ganz fest drücken.«
Zaid kam ins Zimmer. »Da ist ja mein kleiner Sprachkünstler«, sagte Maya. »Zaid, komm und sag Onkel Joy guten Tag.«
Joy streckte dem Kleinen die Hand entgegen, und als Zaid auf ihn zutrat, um sie zu schütteln, zog er sie ganz schnell weg und hielt sie sich vor die Stirn. »As-salamu ‘alaikum. Reingelegt!«
Zaid kicherte wie verrückt.
»Der Knirps da spricht jede Sprache der Welt. Stimmt’s, Zaid? Sag was auf spanisch zu Onkel Joy!«
Zaid dachte angestrengt nach. »Oh-kay«, sagte er und gab ganz langsam und deutlich zum besten: »Aki jegoo la pas.«
»Ganz hervorragend«, sagte Joy. »Das verstehe ja sogar ich.«
»Hat er wirklich was Richtiges gesagt?« flüsterte Maya. »Ich habe immer gedacht, er denkt sich das alles nur aus.«
Joy griff nach einem Kartenspiel, das auf dem Tisch lag, und mischte es durch. »Ich zeig dir was, Zaid.«
»Karten spielen dürfen wir nicht«, warf Maya schnell ein, »das ist Tabu für ihn.«
Joy warf ihr einen vielsagenden Blick von der Seite zu. »Das ist kein Spiel«, sagte er, »das ist Magie.« Nervös ließ Maya ihn seinen Zaubertrick vorführen. Dann kletterte Zaid auf Joys Schoß, flüsterte ihm etwas ins Ohr und tanzte dann zum Zimmer hinaus: Adios, adios, adios.
*
Rehana hielt ihre Haare büschelweise in den Händen.
»O Ma.« Maya nahm ihr das Haarbüschel weg, das wie ein kleines, pelziges Tierchen aussah. Die kahle Stelle auf der Kopfhaut glänzte wie eine Metallmünze auf dem Meeresboden.
Rehana war im Bad gewesen, als ihr die ersten Haare ausgingen. Im Handtuch seien noch mehr, sagte sie.
»Komm, wir rasieren sie ab«, sagte Maya.
»Nein, noch nicht.« Rehanas Stimme klang sehr müde. »Bitte nicht.« Sie ließ den Kopf aufs Kissen sinken und wandte das Gesicht ab, damit Maya nicht sah, wie sie weinte. »Ist ja nicht so schlimm«, sagte sie und putzte sich die Nase, »der Doktor hat’s mir ja vorhergesagt.«
Maya hielt immer noch das Haarbüschel in der Hand. »Wirf’s weg«, sagte Rehana. »Verbrenn es.«
Sie ließ es auf den Boden fallen. Sufia kam, hob es auf und verschwand in der Küche.
Rokeya saß mit dem Gesicht in Richtung Sonne auf dem blanken Betonboden. »Geh doch bloß in den Schatten«, sagte Maya, »du holst dir noch einen Sonnenbrand.« Es mußte einer der heißesten Tage des Jahres sein. Rokeya begrüßte sie mit einem heiseren Salaam. Maya sah, daß ihre Lippen ganz ausgetrocknet waren, einzelne Haare hingen unter dem Kopftuch heraus.
»Wie geht es deiner Mutter?« erkundigte sie sich.
»Es geht so«, antwortete Maya.
Rokeya nickte, und in ihren Augenwinkeln sammelten sich die Tränen. Mit einer Geste, die Maya augenblicklich erkannte, legte sie beide Hände auf den Bauch.
»Bist du schwanger?« fragte Maya und beugte sich zu ihr herunter, um sie genauer zu betrachten.
Rokeya lächelte schwach. »Wie hast du das erraten?«
Khadija kam durch den Vorhang nach draußen. Sie gab Rokeya ein Glas Wasser. »Geh jetzt rein«, sagte sie. Rokeya faßte mit beiden Händen nach dem Glas und trank es gierig in einem Zug aus.
»Wir sollten einen weiteren Talim für deine Mutter abhalten«, sagte
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