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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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war.
    Und sie dachte über Ammus Bitte nach, ein einziges Gebet am Tag, in der Abenddämmerung, der heiligen Stunde. Wie gern hätte sie eingewilligt; sie wünschte, sie hätte sich schon vorlanger Zeit dem praktischen Wesen der Religiosität gebeugt. Doch wenn sie das jetzt täte, wäre es ein schaler und substanzloser Handel. Kein Gott, den sie respektieren konnte, würde sich auf einen solchen Pakt einlassen, bei dem Er genau wußte, daß die an die Tür klopfende Gläubige nichts weiter wollte als einen Flaschengeist, die Erfüllung eines einzigen Wunsches. Und selbst wenn dieser Wunsch von einer tieferen Sehnsucht begleitet wurde, ließ sich unmöglich vorhersagen, ob sie ihr Versprechen je einhalten würde.

    *

    Am Morgen fand Maya Zaid, der sich unter dem kleinen Schreibtisch zusammengerollt hatte. Sie spähte darunter und sah zwei Knie, die an eine kleine Brust gedrückt waren.
    Er öffnete die Augen und streckte ihr die Hände entgegen. Sie zog ihn unter dem Möbelstück hervor. »Wo kommst du denn her?« fragte sie.
    »Vom Bus«, sagte er.
    »Ganz allein?« Er hätte keinen schlechteren Zeitpunkt treffen können. Sie mußte Ammu helfen, die letzten Sachen für das Krankenhaus zusammenzupacken. Zaid stank nach Schweiß und Gott weiß nach was noch, und die Haare waren ihm so kurz abrasiert, daß die blassen Adern zu sehen waren, die sich wie Schlingpflanzen von seinem Nacken über den Kopf schlängelten. All die Wochen hatte sie auf ihn gewartet, und da war er nun, verdreckt und kahlköpfig, und brach ihr das Herz.
    Die Augen voller Tränen, nickte er. »Es sind Ferien«, sagte er.
    »Hast du Hunger?« fragte sie, barscher, als sie beabsichtigt hatte. Sie hatte gewußt, daß die Behandlung bei ihrer Mutter nicht anschlagen würde; sie wußte, was Metastasen in der Leber bedeuteten. Zaid weinte jetzt, die Hände ans Gesicht gedrückt.
    Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn, bis er keine Luft mehr bekam. »Ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet«, sagte sie. »Wußtest du das?«
    Sie setzte ihm einen Toast und ein Spiegelei vor, beides aß er langsam, mit beim Kauen zitterndem Mund. Ammu war aufgewacht und rief herüber, sie solle nicht vergessen, die Gebetsmatte mit einzupacken. Maya sah Zaid an. »Ich muß Dadu ins Krankenhaus bringen.«
    »Es sind Ferien«, wiederholte er. »Der Huzur hat erlaubt, daß wir heimgehen.«
    Sie glaubte ihm, was sollte sie auch sonst tun.
    »Ich bin so bald wie möglich wieder da.«
    Zaid gab ihr den leeren Teller, kroch auf allen vieren durchs Zimmer und zwängte sich wieder unter den Schreibtisch. »Ich bleibe hier. Ich warte einfach so lange hier.«
    Maya redete sich ein, daß er schon zurechtkommen würde. Sie würde bald aus dem Krankenhaus zurückkehren und ihn holen, und dann würden sie zusammen in den Park gehen, und Ammu würde wieder gesund werden, und sie würden alle zusammen Ludo spielen, und er würde wieder schummeln, genau wie immer.

    *

    Maya zählte die Stunden, die ihre Mutter schlief. Zweiundzwanzig. Siebenunddreißig. Vierzig. Am dritten Tag sagte Dr. Sattar, Maya solle ihren Bruder kommen lassen. Und alle anderen, die sie vielleicht noch einmal sehen wollten. Maya telefonierte, und die Leute kamen, Leute, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte, Nachbarn und Bekannte. Sie brachten ihre Kinder mit, die am Bettlaken zerrten und sich beschwerten, daß es nach Krankenhaus roch. Sie sagten Inna lillahi, so als ob Rehana schon tot wäre. Maya rief wieder im Bungalow an und flehte Sohail an zu kommen. Ammu verläßt uns, sagte sie in den Telefonhörer, unternimm etwas.
    »Ich habe getan, was ich konnte«, hatte Dr. Sattar gesagt, »jetzt können wir nur noch abwarten.«
    Rehana atmete, hatte aber das Bewußtsein nicht zurückerlangt. Ihre Niere versagte. Ihre Fingerspitzen verfärbten sich blau.
    Rehana war in ein Einzelzimmer verlegt worden, weg von der Station und den anderen Patientinnen. Maya begrüßte die Besucher, wiederholte die Sätze über Krebs, Gebärmutter, die teilweise Entfernung der Leber. Sie war höflich und protestierte nicht, als Mrs. Rahman ein Bändchen vom Heiligen der Acht Schnüre mitbrachte und Rehana ums Handgelenk band.
    Am vierten Tag versuchte Dr. Sattar Maya zu überreden, nach Hause zu gehen. Nur für ein paar Stunden. Zum Frischmachen. Kleiderwechseln. Als sie sich weigerte, bot er ihr an, sich im Arztzimmer ein wenig auszuruhen. Er führte sie am Ellbogen die Treppe hinunter und über den Hof. Sie kannte den Weg,

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