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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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durch die grünen Korridore, in denen Unmengen von Patienten saßen und warteten, in der Hand zerknitterte Zettel und Aktenordner mit abgenutzten, schwarzen Rändern.
    »Ich schicke jemanden, der Sie wieder abholt. Jetzt schlafen Sie.« Dr. Sattar machte die Tür hinter sich zu, und Maya fixierte den Lichtstreifen unter der Tür. Er leuchtete goldgelb und versuchte, sie über die andere Seite zu täuschen, wo ihre Mutter lag, mit blauen Fingerspitzen, während das Leben aus ihr entwich. Sie sagte dem Lichtstreifen, daß sie ihn anstarren würde, bis sich seine Farbe änderte, bis er von Gold zu Blau wurde, von Tag zu Nacht, doch die Augen mußten ihr zugefallen sein, denn als sie sie wieder aufmachte, war das goldene Licht immer noch da, unbeirrt, beständig schien der Streifen schmal und lang ins Zimmer hinein, und Maya dachte an ihren Vater, an sein viel zu kurzes Leben, und an all die jungen Männer, deren Blut in den Staub geflossen war, und an ihren Bruder und an seinen Sohn, auf einmal fiel ihr Zaid wieder ein, und sie fragte sich, ob er sich wohl immer noch unter dem Schreibtisch versteckte – wie hatte sie ihn nur dort zurücklassen können? –, und dann überkam sie auf einmal die Furcht, niemals einen eigenen Sohn zu haben, weil sie vielleicht gar nicht in der Lage war, irgend jemanden genug zu lieben, jemanden so sehr zu lieben, daßsie seine Einsamkeit annehmen und zu ihrer eigenen machen konnte.
    Der Lichtstreifen leuchtete beständig. Tag blieb Tag. Dann wurde er länger und bekam einen Schatten. Sie hielt eine Hand hoch, damit sie nicht geblendet wurde. Eine Krankenschwester stand in der offenen Tür.
    »Wie lange habe ich geschlafen?«
    »Nicht lang. Ein paar Stunden.«
    Als sie wiederkam, war das Krankenzimmer voll fremder Männer, ein Kreis aus langen weißen Kitteln. Waren sie da, um den Aktenbericht zu verfassen? Frau, zweiundfünfzig Jahre alt, Uteruskarzinom Stadium vier. Gebärmutterentfernung. Leberresektion. Zwischen den vielen Menschen sah sie die Füße ihrer Mutter unter dem Bettlaken herausragen, ihre ordentlichen, geraden Zehen, den Leberfleck unter dem Sprunggelenk.
    Dr. Sattar löste sich von den anderen. »Kommen Sie, Maya.« Der Kreis öffnete sich, um sie mit aufzunehmen. Wollten sie ihre medizinische Meinung? Jetzt hoben sie die Arme, Handflächen gen Himmel. Diese Geste verstand sie sofort. Es waren keine Ärzte. Ich erhebe die Hände zu dir, Allerbarmer, und bitte dich, o Allah, ich flehe dich an. Ihre Arme gingen nach oben. Sie sah ihren Bruder am Bettende stehen, an dem die Füße ihrer Mutter unbedeckt und einsam lagen, der ihr unbekannte Worte flüsterte. Die Männer in Weiß sprachen ihm nach und erhoben die Stimmen im Chor. Amen. Sie wußte, daß es falsch war, im Kreis zu stehen, in alle möglichen Richtungen gewandt, und so Gott anzuflehen. So machte man das nicht. Diese Welt, hatte Sohail ihr gesagt, war vergänglich. Ammu würde ihren himmlischen Lohn empfangen. Es war egoistisch, sie hierbehalten zu wollen. Er tat es für Maya, weil sie ihn angefleht hatte, ihre Mutter nicht sterben zu lassen. Er war gekommen, er hatte diese Männer mitgebracht, und sie hatten sich im Kreis aufgestellt, nicht in einer geraden Linie in Richtung Mekka. Sie kannten die Worte. Sie hatten sich entschlossen, sie zu benutzen.
    Sohail sah ihr in die Augen, und sie machte eine Bewegungauf ihn zu, um ihn zu umarmen, aber sein Gesicht sagte ihr, daß sie wegbleiben sollte, daß sie wegbleiben mußte, um den Zauber nicht zu durchbrechen, also trat sie wieder einen Schritt zurück und konzentrierte sich auf den Glauben, daß dies die Rettung war.
    Sohail hob eine Plastikflasche mit Wasser hoch und goß ein klein wenig davon in ein Glas. Wasser aus dem Brunnen Zamzam. Sanft hob er den Kopf seiner Mutter an, setzte ihr das Glas an den Mund und flößte ihr sehr behutsam ein wenig zwischen die leicht geöffneten Lippen ein. Die Tropfen, die daneben gingen, wischte er nicht weg. Die Männer rezitierten weiter. Dr. Sattar wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen.
    Wenn die pakistanischen Soldaten im Krieg einen kleinen Jungen auf der Straße trafen, dann mußte er vor ihnen den Lungi öffnen. Beweis es uns, sagten die Soldaten. Beweis, daß du einer von uns bist. Der Junge fummelte an dem Knoten in seinem Lungi herum und hielt den Wickelrock dann auf, damit der Soldat hineinspähen konnte. Vielleicht war es Nacht. Es ist zu dunkel, man sieht ja gar nichts, sagte der Soldat dann. Hol ihn raus

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