Mein Freund Jossele
«
Ein Klingelzeichen erklang. Jossele hob den Hörer ab.
»Die von Ihnen gewählte Nummer….«
Der Eskimo-Effekt
Wieder saßen Jossele und ich in unserem Stammcafé und wussten nicht, was wir mit dem angebrochenen Abend beginnen sollten. Am Nebentisch flüsterte Guri zweideutige Witze in Schlomos Ohr, und zwar flüsterte er dergestalt, dass im Umkreis von zehn Metern sämtliche Damen erröteten.
Früher einmal war das ein anständiges Kaffeehaus.
Nach einer Weile wandte sich Schlomo in die Runde, die auch uns beide umschloss:
»Wie wär's und wir gehen irgendwohin essen?«
Die allgemeinen Rufe der Zustimmung mündeten samt und sonders in die Frage:
»Ja - aber wohin?«
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es diese Frage ist, die schon seit geraumer Zeit unsere Nachkriegsgeneration beschäftigt: Wohin gehen wir? Auf den vorliegenden Fall bezogen, lautet sie: Was ist aus all den guten Restaurants geworden?
Guri raffte sich zu einem konkreten Vorschlag auf: »Versuchen wir's doch mit dem neuen rumänischen Lokal auf der Herzl-Straße.«
»Ohne mich«, widersprach Jossele. »Eine unmögliche Kneipe. Miserables Essen, dreckige Tische, elende Bedienung. Dort kann man nicht hingehen.«
Schlomo schloss sich an:
»Stimmt. Das hört man von allen Seiten. Na, wir werden schon etwas finden.«
Damit erhoben sich die beiden und verschwanden in der Dunkelheit.
Als sie außer Sichtweite waren, stand auch Jossele auf:
»So, und wir gehen jetzt zum Rumänen.«
Ich konnte nicht umhin, mich zu wundern:
»Aber du hast doch gerade gesagt -?«
Jossele schüttelte den Kopf und zog mich wortlos mit sich fort.
»Der alte Pioniergeist ist tot«, erklärte er mir unterwegs. »Er wurde durch den sogenannten Eskimo-Effekt ersetzt, der seinen Namen von der Tatsache herleitet, dass die Zahl der Eskimos in der Arktik ständig anwächst, während die Zahl der Seehunde, von denen sie leben, ständig abnimmt. Was folgt daraus? Entdeckt ein Eskimo eine neue Seehundkolonie, so wird er das nicht weitererzählen, sondern wird seine Entdeckung für sich behalten. Noch mehr: er wird die anderen Seehundjäger in eine falsche Richtung schicken. Verstehst du?«
»Nein.«
»Ich meine: verstehst du die Nutzanwendung für unsere Situation?«
»Eben nicht.«
»Ist doch ganz einfach. Wenn jemand in unserem kleinen Land ein halbwegs brauchbares Restaurant entdeckt, spricht sich das in längstens zwei Wochen herum, und die Entdeckung kann wieder abgestrichen werden. Das Lokal ist überfüllt, heiß und lärmend. Du bekommst keinen Platz.
Wenn du ihn trotzdem bekommst, musst du eine halbe Stunde lang warten, bevor du überhaupt bedient wirst, und dann eine weitere halbe Stunde zwischen jedem Gang. Du hast den Ellbogen deines Nachbarn in deinen Rippen, seine Gabel in deinem Teller und sein Messer in deinem Rücken.
Aus allen diesen Gründen muss der verantwortungsvolle israelische Bürger den Eskimo-Effekt anwenden. Er muss das von ihm entdeckte Restaurant in einen möglichst schlechten Ruf bringen, damit es nett und gemütlich und auf gutem kulinarischen Niveau bleibt. Als der bekannte Rabbinersohn Karl Marx vom Umschlag der Quantität in Qualität sprach, meinte er die rumänischen Restaurants. Verstehst du jetzt?«
»Allmählich.«
»Proletarische Wachsamkeit«, fuhr Jossele fort, »ist auch in anderen Zusammenhängen geboten.
Zum Beispiel darfst du einen guten Zahnarzt niemals weiterempfehlen - oder du sitzt bald darauf stundenlang in seinem Wartezimmer. Und wenn du über den billigen Schneider, den du endlich gefunden hast, nicht in den wildesten Tönen schimpfst, wirst du ihn dir nach ein paar Monaten nicht mehr leisten können.«
»Jetzt fällt mir auf«, sagte ich nachdenklich, »dass meine Frau, wenn sie Freundinnen zu Besuch hat, immer darüber jammert, dass ihr Friseur nichts taugt.«
Jossele nickte:
»Ein klarer Fall von Eskimo-Effekt.«
Wir hatten die Herzl-Straße erreicht. Gerade als meine Magennerven sich auf rumänische Spezialitäten einzustellen begannen, sahen wir zu unserer peinlichen Überraschung von der anderen Seite Guri und Schlomo herankommen.
»Wieso seid ihr hier?«
Es ließ sich nicht feststellen, wer von uns vieren das als erster ausrief. Wahrscheinlich taten es alle zugleich. Was uns aber noch peinlicher überraschte: das Restaurant war geschlossen. Wir trommelten mit den Fäusten gegen den Rollbalken - vergebens. Endlich tauchte in einem Fenster des ersten Stocks ein Bewohner auf: »Hat keinen Sinn!«
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