Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
erstes Gespräch jedoch so verlaufen würde, hätte ich niemals für möglich gehalten. Nie hätte ich so viel Wut in ihm vermutet. Seine Worte bestätigten die schlimmsten Befürchtungen, die mich bei seinem Abgang von der Flag beschlichen hatten: dass ich ihn verlieren würde. Und jetzt wünschte er sich das sogar, das war das Schlimmste.
Wil merkte nichts, aber Martino, der erneut an unserem Tisch saß, erkannte sofort, wie aufgewühlt ich war, und fragte mich, was passiert sei. Ich bemühte mich mit aller Macht, ihm ohne zu weinen von meinem Anruf zu berichten. Martino fühlte mit mir und erklärte ein wenig albern, dafür würde er Justin windelweich prügeln, was mich zum Lachen brachte, da mein Bruder erheblich kräftiger war als Martino. Wil saß stumm daneben und nahm an der Unterhaltung überhaupt keinen Anteil. Als er ein paar Minuten später in Richtung Toiletten verschwand, legte Martino seine Hand auf meine. Ich hätte meine wegziehen können, tat es aber nicht.
Der restliche Tag verflog im Nu. Als ich zum Bus musste, wollte Wil mir einen Abschiedskuss geben, aber ich wich ihm aus, woraufhin er mich rundheraus fragte, ob es wegen Martino sei. Ich log und sagte, es würde nicht an ihm liegen, ich wolle es nur etwas langsamer angehen.
In den nächsten Tagen versuchte ich Wil aus dem Weg zu gehen, aber er ließ sich einfach nicht abschütteln. Ständig rief er meinen Pager an und trieb mich in die Enge. Bis er endlich seinen freien Tag hatte und nicht in der Schule war. Martino und ich konnten ungestört reden. Wir waren sofort wieder auf einer Wellenlänge, unterhielten uns über alles und nahmen Anteil an den Problemen des anderen. Als frischgebackenes Sea Org-Mitglied hinterfragte er Scientology nicht mehr so vehement wie früher, aber das tat ich ja auch nicht. Auswirkungen auf unser ungezwungenes Verhältnis hatte diese Veränderung jedenfalls nicht. Und beim Gehen lehnte er sich schließlich in so vertrauter Weise an mich, dass all die alten Gefühle wieder auf mich einstürmten. Ende der Woche konnte ich Wil einfach nicht länger im Unklaren lassen, was ich für Martino noch immer empfand. Er war traurig und hatte schon damit gerechnet. Als ich mit ihm Schluss machte, reagierte er dennoch richtig aufgebracht, aber ich wollte ihn nicht unnötig hinhalten.
Zwischen Martino und mir lief es danach fast wieder so wie vor dem großen Drama. Im Kursraum saßen wir mit unter dem Tisch ineinander verknoteten Beinen, und in den Pausen unterhielten wir uns. Der Schultag wurde wieder mein Lieblingstag der Woche.
Eines Nachmittags warteten wir auf den Bus und sprachen darüber, wie nervig es doch war, nicht fest befreundet sein zu dürfen. Wir waren beide in der Sea Org, also sollte es uns gestattet sein. Im Weg stand bloß, dass Tante Shelly und Anne Rathbun es verboten. Offen ausgesprochen wurde es nicht, aber im Grunde hielten sie ihn für einen schlechten Umgang, daher blieb ich unter permanenter Beobachtung. Da ich durch die Beziehung mit ihm bereits in Schwierigkeiten geraten war, würde eine Rückkehr zu ihm nur zeigen, dass ich mich nicht geändert hatte.
»Weißt du, Jenna«, sagte er, sah mich kurz an und senkte dann seinen Blick. »Ich … ich bin an einem Punkt, an dem es mir eigentlich schon egal ist, ob wir Ärger bekommen können.«
Und dann zog er mich an sich und küsste mich.
KAPITEL 21
Security-Checks
An diesem Abend kam ich nach Hause und erzählte all meinen Mitbewohnerinnen, dass Martino mich geküsst hatte. Ich war so glücklich, ich konnte mich einfach nicht bremsen. Trotz des Risikos trafen Martino und ich uns jetzt häufiger. Streng genommen war uns das erlaubt, da er kein Kadett mehr war, aber Tante Shelly und Anne Rathbun hatten mir durch ihre Ermahnungen eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie uns beide nicht zusammen sehen wollten. Werktags konnten wir uns nur heimlich treffen. Wenn jemand unerwartet hereinkam, blieb uns gerade noch Zeit für einen raschen Händedruck, bevor ich mich davonschlich.
Ende September ging es mir besser denn je. Ich liebte meinen Job, hatte massenweise Freunde sowohl innerhalb als auch außerhalb der CMO , auch wenn die Kontakte im Verborgenen liefen, und all meine alten Freunde von der Ranch waren jetzt auf der Flag. Und zur Krönung von allem war ich endlich mit Martino zusammen. Ich hätte mir denken können, dass es schon zu viel des Guten war. Vor allem hätte ich auf meine Freunde hören sollen, die Martino und mich zur Vorsicht mahnten,
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