Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
weil sie sonst selbst in Schwierigkeiten geraten wäre. Was auch immer dahintergesteckt haben mochte, sie war es jedenfalls leid, auf mich sauer zu sein, und zeigte sich deutlich umgänglicher.
Plötzlich wurde ich nicht länger als Feind der Gruppe betrachtet, sondern als jemand, der immense Fortschritte auf seinem Weg der Erholung gemacht hatte und der schon bald wieder mit allen gut klarkommen würde. Damals betrachtete ich diesen Wandel schlicht als willkommene Erleichterung, aber rückblickend stellte er auf exemplarische Weise dar, welchen gewaltigen Einfluss Onkel Dave und Tante Shelly auf alle anderen ausübten. Monatelang hatte man mich vorgeführt und schikaniert. Ich war zurechtgestutzt und zum niedersten aller Geschöpfe erklärt worden. Und schließlich bedurfte es lediglich eines Gesprächs mit Tante Shelly, um die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken. In meinem Fall hatte sich dieser Einfluss zu meinem Vorteil ausgewirkt, da Tante Shelly mir wohlgesonnen war und mir vergeben wollte, aber ich musste mit Schrecken daran denken, was geschehen konnte, wenn Onkel Dave oder Tante Shelly jemandem schlichtweg nicht vergeben wollten.
Von meinen CMO EPF -Pflichten befreit war ich dadurch allerdings längst noch nicht. Immerhin wurden mir kurze Gespräche mit meinen Freunden von der Ranch gestattet, solange ich nicht zu engen Kontakt mit ihnen hatte. Schon bald kamen viele der Kinder von der Flag Cadet Org ins EPF , darunter Martino, Jasmine und Cece. Das war gut, denn meine Flag-Freunde schlossen rasch Freundschaft mit meinen Bekannten von der Ranch, insbesondere mit B. J., dem der Abschied von der Westküste noch immer große Probleme bereitete. Ein wenig wohl auch mir zuliebe kümmerten sie sich um ihn. Im November 1999, fünf Monate nach meiner Degradierung ins CMO EPF , durfte ich schließlich wieder aufsteigen.
Als nunmehr wieder vollwertiges Mitglied der CMO wurde mir ein neuer Aufgabenbereich zugeteilt. Ich wurde Flag Crew Programs Operator . Die Flag Crew bestand aus fünfhundert Leuten und war für den Betrieb jener fünf Hotels und vier Restaurants zuständig, die von öffentlichen Scientologen, wenn sie in Clearwater waren, genutzt wurden. Jedes Hotel hatte seine eigenen Zimmermädchen, sein eigenes Wartungspersonal, jedes Restaurant seinen eigenen Leiter, seine Kellner, Köche, Spüler und Hilfskellner. Meine Arbeit bestand darin, Programme durchzuführen, um organisatorische Störungen zu beseitigen.
Die Stellung gefiel mir viel besser, als ein Vollzeitschüler zu sein. Ich hatte einen Job, was ich mir immer gewünscht hatte. Ich war nicht den ganzen Tag in einem Kursraum eingesperrt, sondern konnte mich frei im Haus bewegen. Ich lernte neue Menschen kennen, gewann Freunde und hatte das Gefühl, etwas Produktives zu tun. Mein Chef, der den Betrieb leitete, war ein richtig cooler Typ. Er war intelligent, hilfsbereit, verständnisvoll, und er wusste meinen hohen Arbeitseinsatz zu schätzen. Gelegentlich wurde ich dafür gerügt, meine Zivilkleidung auf unschickliche Art zu tragen. Aus PR -Gründen war es uns gestattet, sonntags in Zivil herumzulaufen, aber mein CO musste mich wiederholt ermahnen, etwas anzuziehen, das weniger körperbetont und meiner Position angemessener war, da ich schließlich kein kleines Mädchen mehr sei. Meiner Ansicht nach war meine Kleiderwahl nicht sonderlich extravagant.
Martino sah ich kaum noch. Nach seinem Abschluss der EPF hatte er den Job übernommen, Preclear-Akten von und zu den jeweiligen Fallbetreuern zu bringen, und da das nichts mit meinem Bereich zu tun hatte, kam ich auch nur selten in seine Nähe. Ein- oder zweimal lief ich durch das Hotel, um zu sehen, ob ich ihm zufällig begegnete, hatte aber kein Glück. Ich liebte ihn noch immer und musste ständig an ihn denken. Ich hörte Gerüchte von anderen Mädchen, die in ihn verliebt waren, und nahm an, dass er dadurch abgelenkt wurde. Außerdem wusste ich, dass ihm mit RPF gedroht worden war, sollte er noch einmal Mist bauen. Zu unseren gemeinsamen Freunden hatte ich allerdings weiter engen Kontakt.
Weihnachten kam und ging, ein weiteres Weihnachten weit fort von meiner Familie, nichts weiter. Flüge zur Int, um Bier-und-Käse-Partys zu besuchen oder mit den anderen Miscaviges Familientrips zur Skihütte zu unternehmen, waren schon lange Geschichte. Mit meinen Eltern hatte ich seit Juli, kurz bevor ich ins CMO EPF gehen musste, nicht mehr gesprochen. Ab und zu trafen Briefe ein, meist von Dad. Keine
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