Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
Er schoss auch Fotos von mir, während ich so tat, als würde ich an seinem Schreibtisch telefonieren, so als würde ich die Welt regieren.
Obwohl er das Oberhaupt von Scientology und ein mächtiger und furchteinflößender Mann war, zeigte er sich in Momenten wie diesen von seiner menschlichen Seite. Bei solchen Gelegenheiten merkte ich, dass er einfach nur ein normaler, lustiger Onkel sein wollte, der mit seiner Nichte herumalberte, und dann konnte man fast eine Art Sehnsucht nach Familie bei ihm erahnen, eine Seite, die bei ihm sonst fast immer verborgen blieb. Sein Verhalten zeigte mir, dass ich keine Angst vor ihm haben sollte – so wie die meisten Erwachsenen. Leider wurden diese Momente immer seltener. Im Laufe der Jahre bekam ich immer weniger diese Seite von ihm zu sehen. Und wenn man bedenkt, wie alles endete, scheint sie irgendwann vollkommen untergegangen zu sein. Aber ich habe diese liebevolle, menschliche Seite von Onkel Dave nie vergessen.
Mit meinen Freunden auf der Flag blieb ich über Briefe in Kontakt, vor allem mit Valeska, Tom, Jenny und sogar Don und Pilar. Mein Dad gab manchmal Bemerkungen von sich, wenn ich Briefe von Don bekam. Zum Beispiel fragte er: »Hast du den Brief von deinem besten Freund Don bekommen?«, und zwar in einem ziemlich eifersüchtigen Tonfall, aber das überhörte ich einfach. Es waren nicht nur diese Bemerkungen, die mir komisch vorkamen, ich fand auch, dass meine Eltern sich ziemlich häufig und immer heftiger stritten.
In diesem Jahr wollten wir Weihnachten in Onkel Daves Wohnung auf der Int feiern. Mom und Dad schenkten Dave einen teuren Füllfederhalter, und Mom bekam von ihm und Tante Shelly einen hübschen grünen Hosenanzug von Ann Taylor. Tante Shelly meinte zu mir, ich sollte auf so etwas wie Mode nicht allzu viel geben, weil das eine Art Falle sein könnte. Sie setzte sich auch mit mir zusammen, um über Hautpflege und Akne zu reden. Ich hatte ziemlich viele Pickel und Rötungen und wusste nicht, was ich dagegen machen sollte. Tante Shelly schlug mir vor, mit natürlichen Mitteln dagegen vorzugehen. Das war mir zwar peinlich, aber ich war ihr trotzdem dankbar.
Kurz nach Weihnachten trat eine neue Richtlinie in Kraft, nach der Kinder am Samstagabend nicht mehr im Quartier ihrer Eltern übernachten durften. Ich hatte zwiespältige Gefühle deswegen. Mir hatte es immer gefallen, bei meinen Eltern zu übernachten, denn in ihrer Wohnung war es so viel angenehmer als auf der Ranch. Ein paar Jahre zuvor wäre ich noch am Boden zerstört gewesen. Doch da meine Eltern jetzt nicht weit weg von mir auf der Int Base lebten, verbrachte ich die Wochenenden in jedem Fall mit ihnen, daher fand ich die Veränderung nicht so schlimm. Doch mein Dad war fuchsteufelswild. Die Familienzeit wurde dadurch noch mehr begrenzt, und wenn Eltern ihre Kinder sehen wollten, mussten sie zur Ranch kommen, was für die meisten schwierig war, weil sie mit dem Bus fahren mussten. Außerdem konnten sie sonntags morgens nicht mehr mit ihnen das einkaufen, was man zum Leben brauchte. Ich allerdings durfte sonntags noch zur Int kommen, wenn auch nicht mehr so oft.
Justin und ich sahen uns auch kaum noch. Er war jetzt offizielles Mitglied der Sea Org und wohnte und arbeitete auf der Int. Wenn wir uns trafen, hatte er mir kaum etwas zu sagen. Daher überraschte es mich, als Taryn eines Nachmittags zu mir kam und mir aufgeregt Neuigkeiten über Justin erzählte. Sie arbeitete genau wie Justin als vollwertiges Sea Org-Mitglied auf der Int Base.
»Freust du dich nicht auch, dass Justin bleiben will?«, rief sie und sah mich erwartungsvoll an. Als ich verblüfft zurückblickte, merkte sie, dass ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Also nahm sie mich beiseite.
»Justin will schon seit ein paar Jahren die Sea Org verlassen«, sagte sie leise zu mir, »aber dein Dad hat ihn endlich überzeugt, doch zu bleiben.«
Als ich das hörte, wusste ich nicht, was mich mehr schockierte: die Tatsache, dass mein Bruder gehen wollte, oder die, dass Taryn mir davon erzählte. Bei der Sea Org ist es verboten, darüber zu sprechen, dass man aus der Organisation austreten will. Es ist sogar verboten, davon zu hören. Jegliches Gespräch darüber wird als Suppressive Act betrachtet – als Antisozialer Akt –, Taryn ging damit also ein großes Risiko ein. Es gab noch weitere Schwerverbrechen, zum Beispiel, negativ über Scientology zu sprechen, Scientology außerhalb der Organisation zu praktizieren, sein Geld
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