Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
kurzen Zeit bereits verändert hatte. Ich erinnerte mich noch gut an den Schock, den zuvor allein die Information von Taryn, Justin würde in Erwägung ziehen, die Sea Org zu verlassen, bei mir ausgelöst hatte. Ich wusste noch, wie nervös mich allein die Vorstellung gemacht hatte, den Gedanken eines Austritts auch nur offen ausgesprochen zu hören. Damals war die Vorstellung, ein Familienmitglied könnte nicht in der Church sein, nahezu undenkbar gewesen. Inzwischen konnte ich seinen Entschluss nicht nur begreifen, er schien mir sogar vernünftig.
Mein Verständnis für seine Entscheidung machte den Abschied jedoch kein bisschen leichter. Mein ganzes Leben verabschiedete ich mich von anderen – von Freunden, meinen Eltern. Oft verschwanden die Menschen aus meinem Leben, wenn ich sie gerade näher kennengelernt hatte. Aber bei diesen Menschen wusste ich zumindest, dass sie in der Church bleiben würden und ich ihnen auf meinem Lebensweg wieder begegnen würde. Doch als ich nun erlebte, wie Justin sich auf seinen einsamen Weg in die Wog-Welt vorbereitete, konnte ich diese Hoffnung nicht haben. Ich wusste zwar nicht, ob er zur SP erklärt würde, aber die Wahrscheinlichkeit war hoch. Im Regelfall wurde jeder aus der Int, der die Sea Org verließ, als SP deklariert, und genau dort war er vor seiner Zeit im RPF stationiert gewesen. Mir war bewusst, dass wir womöglich nie wieder miteinander reden würden.
Noch dazu spielte mein anderer Bruder, Sterling, keine große Rolle in meinem Leben, ja, ich wusste nicht einmal, ob er vom Austritt seines eigenen Zwillingsbruders erfahren hatte. Sterling besaß einen Posten im Int, und wir hatten eigentlich nur selten Kontakt. Unser Verhältnis war schon früher nicht sonderlich eng gewesen, und in den letzten Jahren, vor meiner Überstellung in die Flag, hatte Sterling sich ganz auf die Hierarchie in der Church und seine eigene Stellung konzentriert. Bei ihm konnte ich ganz sicher keinen Trost suchen.
Schließlich wurde mir mitgeteilt, dass es Zeit wurde, sich von Justin zu verabschieden. Ich ging zu seinem Quartier in der Hacienda und war vom ersten Augenblick an verblüfft, wie glücklich er wirkte. Obwohl ich selbst traurig war, erleichterte mich sein lächelndes Gesicht enorm. Ich gab ihm meinen Discman und eine Zeitschrift, die er sich von mir hatte ausleihen wollen. Er versuchte nicht einmal, mich zu überreden, seinem Schritt zu folgen. Was er tat, war in seinen Augen keineswegs für jeden das Richtige. Er wusste lediglich, dass es für ihn das Richtige war.
Wir plauderten ein wenig, dann umarmte er mich ein letztes Mal, und ich ging. Mit knapper Not schaffte ich es nach draußen, bevor ich in Tränen ausbrach. Natürlich schmerzte es mich, meinen Bruder zu verlieren, aber meine Gefühle waren noch deutlich vielschichtiger. Meine Familie schrumpfte beständig. Justin hatte in meinem Leben einen größeren Raum eingenommen als meine Eltern. Auf der Ranch war ich jeden Tag mit ihm zusammen gewesen, was für meine Eltern mehr als ein Jahrzehnt lang nicht gegolten hatte.
Jetzt, da ich ihn sah, wie er die Flag Base für immer verließ, und zugleich wusste, in welchen Schwierigkeiten Mom und er gesteckt hatten, begriff ich plötzlich, dass die von mir geliebten Menschen mich hier womöglich allein zurückließen, dass ich eines Tages die Letzte hier sein könnte, die übrig blieb – die letzte Gläubige von allen.
Anfang 1999, unmittelbar nach meinem fünfzehnten Geburtstag, feierte die Church die Wiederauflage des Volume Zero von LRH s achtbändigem Organization Executive Course . Das Buch wurde mit großem Wirbel begrüßt, was allerdings auch bedeutete, dass jeder Mitarbeiter es kaufen, lesen und eine beiliegende Checkliste ausfüllen musste. Der Preis betrug achtzig Dollar und damit das Vielfache eines Wochenlohns. Ich bezog mit fünfundzwanzig Dollar nur ein halbes Gehalt und musste manchmal drei Wochen ohne jede Bezahlung zurechtkommen.
Wenn ich ein wenig Geld hatte, wollte ich mir Essen davon kaufen, kein Buch für achtzig Dollar. Man ermahnte uns, Volume Zero auch nicht auszuleihen oder mit anderen zu teilen, da jeder von uns eine eigene Ausgabe besitzen sollte. Wahrscheinlich wollte man die Verkaufszahlen in die Höhe treiben. Ich gehörte auf dem Stützpunkt zu den Letzten, die sich das Buch besorgten, und musste glücklicherweise nicht dafür bezahlen. Zu meiner großen Erleichterung schickte mein Vater mir das Werbeexemplar, das er aufgrund seines Postens
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