Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
bekommen hatte.
Da ich kurz zuvor in einem Kurs den Umgang mit dem E-Meter gelernt hatte, konnte ich mich ganz dem Studium von Volume Zero widmen. Basic Staff Hat war schrecklich und achthundert Seiten lang. Einmal studierte ich gemeinsam mit meiner Freundin Marcella in den allgemeinen Kursräumen des Coachman Building den Text. Ich begann einen Abschnitt zu lesen, der sich The Structure of Organization: What Is Policy? nannte. Es handelte sich um ein elfseitiges Grundsatzschreiben bestehend aus siebenhundert Wörter starken Paragrafen, von denen ich als Fünfzehnjährige nicht das Geringste verstand. Im typischen LRH -Stil wimmelte es von vielsilbigen Wortungetümen und Bezügen auf irgendwelche obskuren Dinge und Personen aus den Vierziger bis Sechziger Jahren. Endlos wurde ausgeführt, warum gewisse Leute namens King, Nimitz und Short komplette Idioten waren, die Pearl Harbor erst ermöglicht hatten. Hochkonzentriert hätte ich vielleicht noch ein wenig davon verstanden, aber es war so langweilig und umständlich geschrieben, dass ich ständig den Faden verlor.
Marcella und ich machten einen Abstecher in die Bibliothek, um in den riesigen Wörterbüchern dort nach der richtigen Bedeutung eines der Wörter zu suchen. Bei unserer Rückkehr saß ein Junge in unserem Alter neben unseren Plätzen und hatte meine Brille auf der Nase.
»Entschuldige mal, das ist meine Brille!«
»Oh, tatsächlich«, erwiderte er grinsend. »Das tut mir aber leid.«
Leid tat es ihm offenbar keineswegs, denn er behielt sie auf und ließ sie auf der Nase tanzen. Seine großspurige Art überraschte mich. Meist fürchteten sich die Leute vor CMO -Mitgliedern oder begegneten uns zumindest sehr zurückhaltend.
»Na, wie läuft’s?«, fragte er und sah mir offen ins Gesicht. »Welchen Kurs macht ihr denn gerade?«
Ich blickte mich um, ob jemand hinter mir stand, aber offensichtlich sprach er mit mir, obwohl Unterhaltungen im Kursraum eigentlich nicht erlaubt waren.
»Wir sind bei Vol Zero , Martino«, erwiderte Marcella an meiner Stelle. Ihr Ton war herablassend, aber auf eine vertraute Art. Sie war mit Martino zusammen in der Flag Cadet Org aufgewachsen, die im ehemaligen Quality Inn am Highway U.S. 19 untergebracht war. Anders als auf der Ranch durften Sea Org-Mitglieder auf der Flag die Nächte gemeinsam mit ihren Kindern verbringen. Ein Bus-Shuttle brachte sie von und zur Base. Ein paar der Motelzimmer waren zu Kursräumen umfunktioniert worden, damit die Kadetten ihren Unterricht abhalten konnten. Einmal die Woche, normalerweise sonntags, fuhren minderjährige Sea Org-Mitglieder mit dem Bus zum Unterricht hinaus und kehrten am selben Abend um halb elf auf die Hacienda zurück.
Martinos Gehabe hätte mich fast dazu gebracht, meine Sachen zu packen und zu verschwinden, aber neben ihm saß Tyler, ein Junge, den ich nett fand, also blieb ich. Den restlichen Vormittag waren Marcella und ich ihrem albernen Herumgekasper ausgeliefert. Beim Clearing von Wörtern bauten sie ständig unsere Namen in ihre Sätze ein. Den Supervisor nannten sie »Sarge«, obwohl sein richtiger Name Sergio war. Den ganzen Vormittag tauschten sie untereinander meine Brille, mit der sie uns dann nachäfften. Sosehr wir sie auch zu ignorieren versuchten, lachen mussten Marcella und ich doch über sie.
In den folgenden Wochen ging ich mit meiner Freundin Cece in den Kursraum. Wir hatten uns angefreundet, als sie mit mir in der CMO war, aber später war sie wegen irgendwelcher Dummheiten, die sie gemacht hatte, zur Cadet Org degradiert worden. Eigentlich war es CMO -Angehörigen zwar verboten, mit Kadetten oder anderen Sea Org-Mitgliedern zu tun zu haben, da wir genau genommen aber nur gemeinsam studierten, bekam ich deswegen keine Schwierigkeiten. Als ich bei einer Einheit nicht weiterkam und ich den Supervisor bat, mir jemanden zum Wort-Clearing zu nennen, verwies er mich an Martino. Zuerst zögerte ich. Ich hielt Martino für einen Spinner, aber wenigstens war er ein Kadett und keiner der öffentlichen Scientologen, mit denen es meistens noch unangenehmer war zu arbeiten.
Wir gingen in den Ausbildungsraum und setzten uns einander gegenüber. Martino stellte mir die standardmäßige Eröffnungsfrage für jedes Arbeitsblatt: »Wie buchstabierst du deinen Namen?« Sobald ich ihm geantwortet hatte, stellte er auch schon seine zweite Frage – und die entsprach nicht dem üblichen Muster: »Wann triffst du deine Eltern?«
Ich war ein wenig verwirrt, da er die
Weitere Kostenlose Bücher