Mein Geheimnis bist du
Ihnen nicht aus dem Kopf, habe ich recht?«
»Was? Äh nein«, stotterte Andrea. »Ich meine, ja«, korrigierte sie eilig. Was auch verkehrt klang. Hilflos zuckte Andrea mit den Schultern. »Na ja. Sie müssen zugeben, dass es nicht eben alltäglich war.«
»Sie wären nicht schockiert, wäre es ein Mann gewesen, der mein Büro verlassen hat. Dann würden wir beide über die Sache schmunzeln und sagen: Na ja, dumm gelaufen, aber Hauptsache, es hat Spaß gemacht. Ist es nicht so?«
Andrea senkte verlegen den Blick. Mareike legte ihre Hand unter Andreas Kinn, hob es an und zwang sie damit, sie anzusehen. »Sie sind befangen mir gegenüber. Das merke ich doch.«
Andrea musste zugeben, dass Mareike recht hatte. Sie war befangen. Aber aus einem anderen Grund, als Mareike vermutete. Ihre Unsicherheit rührte nicht daher, dass ihr das erste Mal im Leben eine lesbische Frau begegnete, sondern weil die lesbische Frau, die ihr begegnet war, sich ihrer Meinung nach nicht an Renate Reinecke verschwenden sollte. Dass dieser Gedanke sich ihr immer wieder aufzwang, war absurd. Und er verunsicherte Andrea. Was ging es sie an, was Mareike Holländer privat trieb?
Mareike zog ihre Hand weg. »Es ist doch immer dasselbe.« Sie ließ Andrea einfach stehen. Andrea blickte ihr nach, wie sie den Gang entlang zu ihrem Zimmer ging und darin verschwand. Den Rest des Tages blieb Mareike unsichtbar.
Andrea saß beim Frühstück. Ein Teller wurde ihr gegenüber auf den Tisch gestellt. Mareike setzte sich schweigend. Merkwürdigerweise fühlte Andrea sich bei ihrem Anblick wie nach einem intimen Streit. Was ja Nonsens war. Andrea wagte ein verzagtes Lächeln. »Nehmen Sie mich trotzdem mit nach Hause, oder muss ich nun doch den Zug nehmen?«
»Wenn Sie sich trauen, sich neben mich ins Auto zu setzen«, lautete Mareikes Antwort. Sie klang müde.
»Ich denke, doch.«
Mareike erwiderte nichts, was Andrea veranlasste, sich noch einmal für ihre unbedachte Bemerkung vom gestrigen Tag zu entschuldigen. »Ich wollte Sie nicht . . . ich weiß wirklich nicht, warum ich das gesagt habe.«
Mareike sah von ihrem Frühstück auf. »Schon gut. Bemühen Sie sich nicht. Ich bin solche Reaktionen gewohnt. Ich bin mit Vorurteilen praktisch aufgewachsen.«
Das Frühstück nahm schweigend seinen Fortgang. Andrea traute sich nicht mehr, etwas zu sagen, aus Angst, Mareike würde sie erneut missverstehen. Später wartete Andrea in der Halle auf Mareike. Während Mareike die Formalitäten an der Rezeption erledigte, überlegte Andrea, wie sie das Missverständnis zwischen ihnen vielleicht doch noch ausräumen konnte. Aber es wollte ihr einfach nicht einfallen, wie sich das bewerkstelligen ließ.
Mareike war an der Rezeption fertig, kam auf Andrea zu und ging an ihr vorbei zur Ausgangstür. Andrea folgte ihr seufzend.
Sie nahmen ein Taxi zur Werkstatt. Mareikes Wagen stand bereits fertig auf dem Hof.
Die Rückfahrt begann, wie das Frühstück endete – schweigend. Das hielt Andrea ganze fünfzig Kilometer lang aus.
»Ehrlich«, platzte es dann aus ihr heraus. »Es ist mir völlig egal, mit wem Sie wo was machen. Es geht mich doch gar nichts an. Ich weiß auch nicht, warum mir die Bemerkung gestern rausgerutscht ist.«
Da Mareike sich nicht dazu äußerte, sah Andrea sich gezwungen, weiterzusprechen. »Na schön. Ich gebe zu, ich hätte nicht erwartet, dass Sie . . . lesbisch sind. Andererseits, was spielt das schon für eine Rolle?«
»Ich weiß nicht. Sagen Sie es mir.« Mareike blickte Andrea von der Seite her an. »Sie sind diejenige, die mich ständig so merkwürdig betrachtet. Oder glauben Sie, ich habe Ihre verstohlenen Blicke nicht bemerkt?«
Hat sie das? , fragte Andrea sich entsetzt. Hatte sie Mareike heimlich beobachtet? Das war Andrea nicht bewusst gewesen.
»Ich sage Ihnen, was ich glaube«, fuhr Mareike gelassen fort. »Sie machen sich plötzlich Gedanken um das Thema Frauenliebe , besonders darum, wie es sich wohl anfühlt, eine Frau zu küssen, zu liebkosen. Sie haben alle möglichen Phantasien. Sie sind schlicht und ergreifend neugierig, und Sie würden es zu gern einmal ausprobieren. Sie haben nur keine Ahnung, wie Sie es anstellen sollen.«
Das war definitiv falsch geglaubt. Andrea wusste sehr wohl, wie samtig sich die Lippen einer Frau anfühlten und wie weich ein Frauenkörper. Was Andrea allerdings bis eben nicht klar war: Sie würde gern wissen, wie Mareikes Lippen wohl schmeckten. Deshalb wagte sie nicht, Mareike
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