Mein glaeserner Bauch
meine Hand.
»Ich weiß, wie Sie fühlen, ich bin genauso alt wie Sie«, sagte sie leise.
Eine menschliche Geste. Ich war ihr so dankbar.
Am späten Nachmittag klopfte es an der Tür und eine ältere Frau steckte verschmitzt lächelnd zunächst nur den Kopf und eine Schulter herein. Sie vergewisserte sich erst einmal, ob ich die Frau bin, zu der man sie gerufen hatte. Dann kam sie näher und setzte sich am Fußende an mein Bett.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, lächelte sie weiter, und reichte mir ein Foto. »Sieht er nicht aus wie ein kleiner Buddha?«
Ich schaute auf das Bild und sah einen Jugendlichen im Schneidersitz auf einer Matte. Sein Körper war kräftig und das Gesicht wirkte etwas aufgeschwemmt.
»Das ist mein Patenkind«, lächelte die Frau. »Er hat Down-Syndrom.«
Ich zuckte zusammen.
»Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen«, lächelte sie. »Sie kennen doch sicher die deutsche Geschichte. Euthanasie, sagt Ihnen das etwas?«
Ich gab ihr wortlos ihr Bild zurück. Fünf Jahre lang hatte ich Geschichtsfilme über den Nationalsozialismus redaktionell betreut, wusste von den NS -Euthanasie-Verbrechen und kannte Nazi-Propagandafilme zum Thema Rassenhygiene, erbkranker Nachwuchs, unwertes Leben. Ich kannte die Archivaufnahmen von Ärzten, die Kopfgrößen als vermeintliche Rassemerkmale messen. Nannte man das damals auch schon biparietaler Durchmesser? Wie kam diese Frau darauf, dass es das war, was ich von ihr brauchte? Ich war sprachlos. Und hätte sie gern einfach fortgeschickt.
Am Abend kam sie noch einmal kurz vorbei. Mit drei Telefonnummern von Selbsthilfevereinen sowie zwei Buchtiteln, auf losen Blättern notiert. Und einer selbstgebastelten Karte mit einem handgeschriebenen Gedicht.
Wiegenlied
Singet leise, leise, leise,
singt ein flüsternd Wiegenlied,
von dem Monde lernt die Weise,
der so still am Himmel zieht.
Singt ein Lied, so süß gelinde
wie die Quellen auf den Kieseln,
wie die Bienen um die Linde
summen, murmeln, flüstern, rieseln.
CLEMENS BRENTANO
Unbesehen legte ich alles in meine Nachttischschublade, als sie ging. Ob sie das farbenfrohe abstrakte Aquarell vorn auf der Karte zusammen mit ihrem Patenkind gemalt hat, habe ich nicht mehr erfahren. Ich war froh, als sie weg war. Von ihr konnte ich nichts mehr annehmen.
Sie hatte mich nicht einmal gefragt, warum sie kommen sollte. Was sie für mich tun könne. Hatte selbst entschieden. Vielleicht nach Aktenlage. Oder nach Informationen der Krankenschwester. Auf ihrer Visitenkarte stand Psychosoziales Krebsnachsorge-Zentrum . Ich hoffe, dass sie dort einfühlsamer mit Patienten umging, verzweifelten Patienten, die Hilfe brauchten.
Genau wie die Ärzte hatte sie ein Bild im Kopf davon, was für mich richtig sei. Anstatt mich dabei zu unterstützen, das für mich Richtige zu ergründen. Oder mich beim Ertragen des Unabwendbaren zu stärken. Aber wahrscheinlich ging es den Ärzten und ihr ja auch gar nicht um mich. Ich war ein Fall und Leon eine pränatale Diagnose.
Und vielleicht hatte sie sogar recht mit ihrem Hinweis auf Euthanasie. Leons Leben war aufgrund einer Chromosomenabweichung als unwert erachtet worden. Und jetzt wurde alles dafür getan, sein Leben so schnell wie möglich zu beenden. Im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften.
Ich wachte auf und hatte wieder das Gefühl, Leon sei in meinem Bauch so weit wie möglich nach oben gerutscht. Diesmal lag ich auf der linken Seite und spürte das handgroße Ei rechts oben, knapp unterhalb meines Bauchnabels. Traurig streichelte ich meinen Bauch dort, wo er sich verhärtet hatte.
Seit morgens war ich mit einem Infusionsgerät verkabelt. Durch eine mit Heftpflaster gesicherte Kanüle im Handrücken floss jetzt ein weiteres Wehen förderndes Mittel in meinen Körper. Nalador Infusion . Wenn es heute nicht zur »Ausstoßung der Frucht« kam, wie es später blumig im Bericht heißt, sollte die Behandlung am nächsten Tag vorübergehend ausgesetzt werden.
Ich kannte einen Therapeuten, und in meiner Not beschloss ich, ihn anzurufen. In seiner Praxis war er nicht, darum versuchte ich es bei ihm zuhause, denn seine Frau kannte ich auch. Zunächst verwirrte sie mein hilfloses Gestammel am Telefon.
»Ich kann nicht mehr! Seit vier Tagen versuchen sie hier, die Geburt einzuleiten!«
»Die wie vielte Woche?«
»Fast die sechzehnte!«
»Aber da ist das Kind doch noch gar nicht lebensfähig«, sagte sie entsetzt.
Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass sie selbst inzwischen
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