Mein glaeserner Bauch
wahrscheinlich nicht noch einmal schwanger werden würde.
Inzwischen weiß ich: Kein Verfahren der Pränataldiagnostik kann mit Sicherheit die Schwere einer geistigen Behinderung feststellen, die ein Kind mit Trisomie 21 zu erwarten hat. Ebenso wenig wie das Ausmaß der körperlichen Beeinträchtigungen. Über Schweregrad und Ausprägung der erhobenen Befunde können nur bedingt Aussagen gemacht werden. 79
Ein Kind mit Down-Syndrom kann von leichten bis mittleren oder auch schwersten Schädigungen betroffen sein, wobei es bei schweren Fehlbildungen oft schon im Laufe der Schwangerschaft zur Fehlgeburt kommt. Aus den Berichten des Labors und des Krankenhauses lässt sich für Leon nur die Diagnose Trisomie 21 mit Sicherheit ablesen.
Eine Einschätzung des Grades der Behinderung ist nicht einmal sicher, wenn das Kind schon auf der Welt ist. Und bei guter medizinischer Betreuung und kompetenter Förderung kann die Entwicklung von Menschen mit Trisomie 21 sehr positiv beeinflusst werden.
Ein Arztehepaar – Eltern von drei Kindern, darunter eins mit Down-Syndrom – beschreibt es darum auch als erschreckend, wie gelassen und routiniert Spätabtreibungen von Feten mit Trisomie 21 abgewickelt und inzwischen kaum noch hinterfragt werden. Als eine Ursache nehmen sie an, dass Ärzte mangels eigener Anschauung und Reflexion vielfach nicht in der Lage seien, die liebenswerte Individualität eines Kindes mit Down-Syndrom zu würdigen. »Es mag schon sein,« schreibt dieses Elternpaar im Ärzteblatt, »dass ein Mensch mit Down-Syndrom außerstande ist, die Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft zu erfüllen. Kann dies aber seine vorgeburtliche Tötung in irgendeiner Weise rechtfertigen?« 80
Z wei Tage nachdem ich die Klinik verlassen hatte, fuhren wir wieder in unser Lieblingshotel. Ich war für den Rest der Woche krankgeschrieben. Bei Sonnenaufgang machten wir uns zu Fuß auf zur Quelle des Baches, in deren Nähe wir uns Pfingsten auf Leons Namen geeinigt hatten. Ich pflückte Blumen am Wegesrand und dachte an die Beisetzungen, die ich in meiner Familie erlebt hatte. Mit tröstlicher Anteilnahme von Angehörigen, Nachbarn und Freunden. Diesmal waren Klaus und ich allein.
Es war ja auch keine Beisetzung. Alles, was wir hatten, war ein glatter Stein, etwa so groß wie das Ei, das ich in der Klinik in meinem Bauch gespürt hatte. Mit einem Lidstift hatte ich Leons Namen darauf geschrieben. Der Regen würde ihn abwaschen. Und Pflanzen den Stein begraben. Nichts für die Nachwelt. Lediglich ein Ort für Klaus und mich. Für unsere Trauer.
Nur wenige Tage später begannen unsere Sommerferien, und ich war froh, erst einmal nicht in die Redaktion zurück und mich dem Alltag wieder stellen zu müssen. Wir fuhren nach Italien, in einen malerischen Ort im Piemont, den Klaus und ich schon Wochen vorher für mich als Schwangere ausgesucht hatten. Jetzt sollte er mir helfen, den Verlust unseres Kindes zu verkraften. Sollte mich wieder stabilisieren. Wenn ich nachts im Hotelzimmer wach wurde, sah ich von meinem Bett aus eine kleine Insel mitten im See, leuchtend wie ein Juwel. Ich wachte oft auf.
Unter anderen Umständen hätte ich den Ort sicher zauberhaft gefunden. Jetzt hatte ich den Eindruck, empfindungslos geworden zu sein, eine Nebenfigur im Film meines Lebens. Weder die Geschwindigkeit noch die Farben des Films schienen zu stimmen.
Das Hotel war nur mit Halbpension zu haben, und wenn die Secondi Piatti vorbei waren, stopfte ich mich mit den Süßspeisen vom Dessertbüffet voll. Ich erinnere mich gut daran, was ich gegessen habe. An meine Gefühle in dieser Zeit nach dem Abbruch erinnere ich mich nicht. Außer an meinen manchmal aufflammenden Groll gegen Klaus, der es oft nicht ertragen konnte, wenn ich wieder Tränen in den Augen hatte. Als müsse der Spuk jetzt vorbei sein.
»Schwangerschaft und Geburt sind natürliche Vorgänge und stellen keine Krankheit dar.« So hieß der erste Satz in meinem Mutterpass. Und als was galt die Verarbeitung einer Abtreibung? Was konnte ich jetzt tun, wie sollte ich unsere Ferien nutzen, um mich wieder zusammenzusetzen, mich wieder herzustellen für die Anforderungen, die im Alltag auf mich warteten? Sind leichte Wanderungen das geeignete Mittel für die Rekonvaleszenz? Ist sakrale Kunst der seelischen Gesundheit förderlich? Ich schwankte zwischen Zynismus und Verzweiflung und versuchte, so gut es ging, etwas von der mich umgebenden Schönheit aufzunehmen.
»Beraten Sie sich mit Ihrem
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