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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Rührung noch die kleinsten Umstände zu notieren, welche von einer Sympathie der Franzosen für Deutschland zeugen. Heine berichtet außerdem beeindruckt und gerührt, wie er in Paris auf dem Boulevard des Italiens den Minister und Philosophen Victor Cousin dabei beobachtet, darin vertieft, »die stillen, frommen Heiligenköpfe von Overbeck« zu bewundern. Er schreibt, dass Cousin »mit Entzücken von der Vortrefflichkeit der deutschen Kunst und Wissenschaft, von unserem Gemüt und Tiefsinn, von unserer Gerechtigkeit und Humanität« zu sprechen begann. Die Begegnung mit Menschen wie Jardot wurde für mich ausschlaggebend. Sie forderte mich heraus, alles in meinen Kräften Stehende zu einer deutsch-französischen Annäherung beizutragen. Doch ebenso rasch spürte ich auch, dass es nicht möglich ist, aus der jeweils andersgearteten historischen Verantwortung auszubrechen und einfach eine Art von kultureller Konvergenz zu behaupten. Von stereotyper Bewunderung und Normalität kann und darf niemals die Rede sein. Auf die etwas naive Hoffnung des deutschen Partners, der die Franzosen zu heftig zu umarmen sucht, passt ein fabelhaft-spöttisches Wort von Kafka, auf das ich im Tagebuch des Jahres 1910 gestoßen bin: »Wenn die Franzosen ihrem Wesen nach Deutsche wären, wie würden sie dann erst von den Deutschen bewundert werden.«
    Der Ausflug, der mich nach Ronchamp führte, galt einer absoluten Novität. Erst drei Jahre zuvor war der Bau fertiggestellt worden, und er wurde sofort als das radikalste, überzeugendste Beispiel für die Erneuerung der Verbindung von religiöser Kunst und Architektur gefeiert. Über die Diskussionen war ich bestens informiert, hatte mir doch meine Schwester Elfriede während ihres Studiums in Dijon regelmäßig die riesigen gelben Seiten der Zeitschrift Arts zukommen lassen. Der Besuch verwirrte mich, nicht zuletzt weil ich auf dieser kurzen Reise nichts anderes von Frankreich sehen und kennenlernen konnte. Ich erinnere mich nur noch an einen Wegweiser, den ich voller Sehnsucht betrachtete. Er zeigte auf der Höhe von Belfort an, dass es von hier aus noch fünfhundert Kilometer nach Paris waren. Die aufgedunsene Form der Kirche auf dem Hügel und der asymmetrische Grundriss waren eine geradezu erschreckende Erscheinung. Mit dem, was ich von Le Corbusier wusste, hatte dieses pulsierende wirbellose Geschöpf wirklich nichts zu tun. Die Forderung des Architekten nach einem »kartesianischen Wolkenkratzer«, der möglichst wenig Platz beanspruchte, stand im krassen Widerspruch zu dieser riesigen Schnecke, die auf ihrem Schleim zu ruhen schien. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, ein bleiches, blutleeres Riesenherz sei in der Landschaft deponiert worden, so unheimlich und unerklärlich wie der gigantische Helm, der unerwartet in den Hof von Horace Walpoles Schloss Otranto stürzt. Derartiges hatte ich nicht erwartet. Alles an dieser Architektur protestierte gegen eine generelle Vorstellung von Tektonik, widersprach dem, was man für technisch machbar halten konnte. Nichts konnte mehr verblüffen als diese beispiellose pilzartige Form, für die ich erst später die Skulpturen Picassos und die biomorphen Exzesse Mirós und Dalís als Vergleich heranziehen und dem Bau damit eine gewisse Legitimität geben konnte. Dieses Gebäude war ein Protest gegen jedes Kalkül, wie ich ihn später im Surrealismus und dessen Einspruch gegen das »peu de réalité«, die »Geringfügigkeit der Wirklichkeit«, als entscheidendes Prinzip entdecken konnte. Die Begegnung mit diesem Ort, die ich im Kopf tagelang erwartet und vorbereitet hatte, bewegte mich ungemein. Ich kam am späteren Nachmittag unten am Hügel an und wanderte dann durch einen Wald aus Ahornbäumen über den lehmigen Boden hoch zur hellen Notre-Dame du Haut. Es war Herbst. An den Bäumen hingen noch vereinzelt gelbe Blätter. Die letzten Strahlen der Sonne brachen in die Blätterhaufen ein, durchdrangen sie, verwandelten sie in leuchtendes Gold, das die Kirche wie eine Monstranz umgab. Ich erinnere mich, dass ich allein in der Kirche war und von dem strahlenden Licht, das aus zahlreichen unregelmäßigen Öffnungen in den schwach erhellten Raum fiel, geblendet wurde. Im Abendlicht wirkten die Luken wie Lichtkanonen. Le Corbusier hatte sie wie tiefe Schächte in eine der aufgeblähten Wände der Kapelle eingelassen. Die Holzverschalungen, die der Architekt für die Mauern und Wände verwendet hatte, ließen auf der Haut des Sichtbetons

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