Mein Glueck
Wasser wirft. Regelmäßig drehte sich bei Beckett das Gespräch um Leiden. Nicht nur seine Stille angesichts des Hölderlinturms in Tübingen passte dazu. Nach dem Tode Max Ernsts war seine erste Frage, als wir uns am 9. April 1976 trafen, ob er leiden musste. Und eine Begebenheit, die mir unvergesslich bleibt, eine Art Miniatur der Hummer-Geschichte, erlebte ich im Fischrestaurant »Aux Îles Marquises« mit seinen rosafarbenen Holzschindeln an der Fassade. Es lag mitten am Montparnasse, in der Rue de la Gaîté – Straße der Fröhlichkeit! Es war ein Lieblingsplatz von Beckett. Als ich auf die Auster Zitrone träufelte, um zu prüfen, ob sie lebte, und als sie als Beweis dafür zusammenzuckte, stieß mich Beckett mit dem Ellbogen an und meinte, ich solle das bleiben lassen: »Hör auf damit! Du siehst, sie leidet.« Grausamkeit hasste und fürchtete er. Nicht von ungefähr spielt er in seinen Texten wiederholt auf Effi Briest an, ein Buch, an dem er leidenschaftlich hing. Er hatte, in seinen Worten das »wunderbare Buch, die schreckliche Geschichte« bei seinen ersten Reisen nach Deutschland kennengelernt. Es berührte ihn sichtlich, als ich ihm sagte, dass Fontanes historisches Vorbild für Effi, Elisabeth von Plotho, bis 1952 in Lindau am Bodensee gelebt hatte. Immer wieder tauchen Anspielungen auf Fontanes Roman im Werk Becketts auf. Auch das Geräusch galoppierender Pferde, das im Hörspiel »Aschenglut« scharf die Stimmen und das Brausen des Meeres unterbricht, geht auf Effi Briest zurück. Diese Anteilnahme erklärt wohl auch, dass er Picasso gegenüber – wie auch sein Freund Bram van Velde – eher reserviert blieb. Die Deformationen der Körper schätzte er offensichtlich nicht. Dagegen gefielen ihm manche Bilder der Blauen und Rosa Periode. Hier spürte er Barmherzigkeit und Liebe, was sicher damit zu tun hatte, dass Picasso in dieser frühen Zeit alles andere als selbstsicher oder aggressiv war. Als ich ihm von Picasso erzählte, stellte mir Beckett die überraschende Frage: »Konnte er zärtlich sein?« Die Frage umschloss all das, was Beckett im Frühwerk des Spaniers suchte und fand. Er zog eine Ansichtskarte hervor, das zarte Pastell »Frau mit Raben«, das ich als Plakat für die Ausstellung der gezeichneten Meisterwerke Picassos in Tübingen und Düsseldorf verwendet hatte. Er trug sie in der Rocktasche mit sich. Das Fragile, Verwachsene, Hilflose der Sitzenden bestürzte ihn. Er war gegen Grausamkeit, und etwas von dieser schien er bei seiner Begegnung mit Picasso gespürt zu haben. Er meinte, nie habe er vergessen können, mit welchem – das Wort mörderisch unterdrückte er – Ausdruck Picasso beim Essen seine Gabel fixierte. Und es gibt von Picasso Zeichnungen, die dieses Instrument zur alles verschlingenden Waffe umdeuten. Das düsterblaue Pastell »Frau mit Raben«, aus dem das bleiche weibliche Gesicht hervorragt, ließ Beckett an die Krähe in Schuberts »Winterreise« mit den geisterhaften, unerträglichen Sechzehnteltriolen denken und an sein Streichquartett »Der Tod und das Mädchen«. Dazu passte auch Beethovens zweiter Satz aus dem »Geistertrio«, den Beckett vom Text in immer gleicher Stimmhöhe begleiten lässt.
Es ist äußerst aufschlussreich, dass Beckett bei unseren Unterhaltungen über Picasso dessen künstlerische Haltung aus einem psychologisch-sozialen Reizklima ableitete, aus einer mit diesem einhergehenden Faszination durch das Leiden und einer Schwermut, die ihn in der Frühzeit bis an den Rand der Neurose geführt hatte. Diese Stimmung löst sich nach und nach in Arbeiten, in denen die verdorrten, humpelnden, blinden, verstümmelten Gestalten zwar noch human fassbar bleiben, die Verletzung und das Invalidentum der Blauen Periode aber immer mehr zum Vorwand werden. Die physischen Abnormitäten gestatten es, neuartige Formzusammenhänge zu verabsolutieren. Picasso brauchte in dieser Frühphase die natürliche, anatomisch mögliche Missbildung, um die Deformation, die ihn um ihrer selbst willen interessierte, nach und nach ohne jede moralische oder psychologische Wertung ins Bild setzen zu können. Bei Beckett zerfällt jedes Fragment des Wartens in sich selbst und sucht nach einer Erklärung. Gerne würde man jeden Moment verstehen, den man mit ihm verbringt: als käme es darauf an, alles zu interpretieren, den natürlichen, selbstverständlichen Zugang zu verstellen. Es geht einem nicht anders als beim Umgang mit den Arbeiten Duchamps, bei dem uns die Suche nach
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