Mein Glueck
Volker Schlöndorff, der sich ebenfalls in einer deutsch-französischen Symbiose bewegte, als Regieassistent bei den Dreharbeiten von »Letztes Jahr in Marienbad« mit Resnais und Robbe-Grillet eine vergleichbare kritische Filterung der Gefühle und Gewissheiten erlebte. Sie erschienen mir nach wie vor als bedeutendste Begründung für das neue Schreiben, das alle Rechthaberei, alle normative, wertende Psychologie ablehnte, gerade so, wie der Kubismus die Zentralperspektive aufgegeben hatte, um auch die Rückseite des Monds, das Verborgene zu zeigen.
Ich begann damals vieles zu schreiben, das von meiner Suche nach dem emotionalen Kältepol berichtete. Es war ein entgegengesetztes Schreiben, das mit der Emphase brach, in der ich mich zuvor zu lange behütet gefühlt hatte. Nur wenige Seiten habe ich aufbewahrt. Nun, da ich sie nach vielen Jahren wieder hervorziehe, erstaunen sie mich auch visuell, weil in ihnen meine Handschrift zu einer regelrecht quietistischen Ruhe gefunden hatte. Es passiert nichts in diesen Texten, die offenbar nur physische Eindrücke fixieren. Hier eine Passage über eine Landung im Flugzeug: »Ich sitze da und imitiere mich. Ob ich mich kenne? Ja, leichter Druck im Magen, zwischen Hand und Kiefer eine Zone im Körper, die fehlt. Vielleicht besonders gegenwärtig gespürt – und der Rest ist es, der fehlt. Aber zwischen Hand und Backe, da rührt sich was, das stiert in mich hinein. Es ist stärker da als ich, es ist für mich da und vertritt mich – nur zubeißen zwischen Backe und Zunge –, das Fleisch zwischen die Zähne saugen, zuklappen, die Zähne rutschen ab, das runde, ekelhaft glatte Fleisch zerfließt zwischen Zunge und Hand. Der Druck der Hand auf die Haut und die Fleischbällchen, die ich mit den Zähnen aus der Innenseite der Backe drehe, ganz langsam, ein Lutschen ohne Geschmack, aber das balanciert und verlagert einen kleinen Schmerz in den linken Kopf. Die Zähne, denen der Ballen entgleitet, denen er wieder zuschnellt, werden sensibel, und der leichte, salzige Blutgeschmack ist wie zerkaut. Das Fleisch schwillt an und rundet sich blasig auf, wirft sich auf und wird unempfindlich. Die ganze linke Backe verschwindet. Nur die Hand scheint auf den Zähnen zu liegen. Wenn ich das schreibe, dann nicht, weil ich es mir nachschreibe. Ich mache es nach – ich möchte sehen, wie weit wir uns entwerfen können –, denn wenn der Druck von den Ohren, den ich auf die Backe verlagert habe, völlig weg ist, ist das Flugzeug ausgerollt.«
Zum Ausmerzen von Spuren passt in den Büchern Robbe-Grillets die Obsession durch fleckenlose Wände, durch Mauern, die von Boiserien geschützt werden. Robbe-Grillet empfing mich in seinem Büro mit seiner sonoren, ständig von hellem Auflachen skandierten Stimme. Er trug damals noch einen Schnauzer, der erst später durch einen dünnen Vollbart ergänzt wurde. Dieser erste Eindruck stand in flagrantem Kontrast zu der Erinnerung an die scholastisch strengen Lektüren, die man mit sich trug. Unkörperlich, eisig, desinfiziert kamen einem die Indizien vor, die wie im Musterkoffer des reisenden Uhrenverkäufers Mathias im Augenzeugen zur Auswahl ausgebreitet werden. Welch ein Gegensatz zu Nathalie Sarraute, bei der jeder Satz in einem klebrigen Schleim steckte. Wir haben uns regelmäßig getroffen. Robbe-Grillet überließ mir bei weiteren Verabredungen in seiner Wohnung am Boulevard Maillot in Neuilly den Aufsatz »Neuer Roman, neuer Mensch« und fragte, ob ich ihn nicht übersetzen wolle. Die Abhandlung plädierte, wie zuvor Sartres » L’existentialisme est un humanisme «, für eine absolute, selbstverantwortete Subjektivität. Heißenbüttel sendete im Radio-Essay diesen Text, den ich damals übertragen hatte. Zwei Jahre später erschien er in der Sammlung Argumente für einen neuen Roman . Es blieb der einzige Beitrag, den mir Robbe-Grillet in all diesen Jahren anvertraut hat. Zwar hatte er ein Hörspiel begonnen und mir auch zum Beweis dafür die ersten Seiten gezeigt. In ihm ging es um einen mysteriösen Zug, der mit seinem Rattern immer wieder durch den Dialog fuhr. Möglicherweise entstand der Plan, Geräusche und Worte alternieren zu lassen, unter dem Eindruck von »Words and Music«, das mir Beckett für Stuttgart gegeben hatte. Eines Tages jedoch hat er die Arbeit an diesem Manuskript fallenlassen. Ich glaube, es hat ihn irgendwie gewurmt. Doch im übrigen war er beinahe stolz. Noch Jahre später erzählte er: »Ja, ich war der einzige, der
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