Mein Glueck
Nirgendwo kommt Becketts Fassungslosigkeit deutlicher zum Ausdruck als in den Aufzeichnungen, in denen von Eingesperrten und Ausgesonderten die Rede ist. Mit Bestürzung stand er, als wir von Stuttgart aus einen Abstecher nach Tübingen machten, in der Platanenallee am Ufer des Neckars vor dem Hölderlinturm. Hyperions Schicksalslied, aus dem er auf Deutsch zitierte, klang nicht froh. Es war, als hätte Pozzo die Anweisung gegeben: »Willst du den Himmel wohl anschauen, du Schwein?« Einer von uns hatte mit dem ersten Vers begonnen: »Ihr aber wandelt droben im Licht«. Sofort unterbrach Beckett: »Kein aber – nur ›Ihr wandelt droben‹.« Der andere wollte ihm nicht recht geben und schlug vor, eine Wette abzuschließen. Beckett setzte einige Flaschen von Goethes »Eschenheimer Lump«. Selbstverständlich gewann er. »Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn.« Dieser Satz musste Hölderlin dem selbstquälerischen Verfasser von Warten auf Godot als Bruder erscheinen lassen. Nicht von ungefähr können wir einen Nachhall des Turms am Neckar in dem Text »Ausgeträumt träumen« finden, in dem Menschen in einem engen Rundbau zwischen Licht und Wärme, Dunkel und Kälte in genau geregelter Choreographie hin- und hertorkeln. Und auch in »Quadrat I und II«, die ich dem Stuttgarter Sender übergab, bleiben die Figuren auf einen winzigen Raum beschränkt, dessen Enge sie wie in Bruce Naumans »Minimal Dance« nicht verlassen dürfen. In Paris öffnete Beckett in seiner Wohnung das Fenster und ließ, der Abend dämmerte, die Klopfzeichen, den Tumult der Gefangenen, denen die Wärter in den Zellen das Licht abgedreht hatten, ins Gespräch einfallen. Kurze Zeit darauf arbeitete er mit dieser Infiltration durch die Außenwelt auch in seinem Hörspiel »Cascando«, das er nach meinem ersten Besuch im Oktober 1961 für den Süddeutschen Rundfunk zu schreiben begonnen hatte und das zusammen mit »Words and Music« dort seine Erstsendung erlebte.
Beide Hörspiele sind noch ungewöhnlicher als die düsteren Stücke »Alle die da fallen« oder »Aschenglut«. Sie spielen mit dem Absturz von Dialogen und Geräuschen. »Ganz still, Kopf in der Hand lauernd auf einen Klang« – es geht um den Übergang vom Sehen zum Hören. »Cascando« macht ein wichtiges Motiv Becketts hörbar: ein Pensum zu Ende führen, eine Obsession durchstehen. Dies wird von einer physischen Anstrengung dargestellt, dem mühseligen Gehen und Fallen auf Strandgeröll. Der Weg zum Schauplatz führt durch den Kopf. Der »Öffner« in »Cascando«, der die Stimme und die Musik, die sich abkämpfen, freigibt, ist die Instanz des Stückes. Man muss diesen Text mit dem Drehbuch zu »Film« vergleichen. Beckett hat es für Buster Keaton geschrieben. Dort ist der »Öffner« die Kamera, das Auge. Als Motto hat er »Film« das Berkeley’sche »esse est percipi« vorangestellt. Er hat damit der Kamera, dem Sehen, die Aufgabe zugewiesen, so wie er in »Cascando« dem Ohr die Welt zur Verfügung gestellt hat. Die Überlagerung der Erinnerungen, die eine Stimme vorträgt, wird auch in Stücken wie Krapps letztes Band auf neue, mechanische Weise reguliert. Der Druck auf den Knopf, das An- und Abschalten, das Aussperren eines Menschen erscheint als Thema. Schlagartig lässt der »Öffner« eine keuchende, hechelnde Stimme von außen in den Raum eindringen. Und plötzlich stellt er sie wieder ab. Dieser Gegensatz von Schweigen und Gerede strukturiert den ganzen Text. Das ist auch das Thema von »Words and Music« – Leib und Geist brechen auseinander. Die Stimme bleibt wie im kartesianischen Dualismus vom Körper getrennt.
Man kam sich bei Beckett vor wie in der Wohnung eines Türmers, wie in dem Ausguck, den 1791 Jeremy Bentham ins Herz seines zylindrischen »Panopticon penitentiary« gesetzt hatte. Das Wissen um die rituelle Überwachungsmaschinerie, mit der Menschen beherrschen, durchsickert das Werk. In Murphy , Watt oder im engen, abwechselnd frostigen oder überhitzten Zylinder von »Ausgeträumt träumen« wird das schiere, sinnlose Agieren von Leibern in Räumen protokolliert, die von Piranesi oder von Boullée entworfen sein könnten. In vielen Texten taucht der feindselige Blick des »esse est percipi« auf, das alles unter einem Mehltau des Argwohns versinken lässt. Buster Keaton sucht in Becketts »Film« diesem Fluch zu entgehen. Er deckt alles ab, was nach Licht und Auge ausschaut. Doch er scheitert an der Selbstwahrnehmung, die sich als
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