Mein Glueck
Ungerechtigkeit, die sich an Tempel austobt. Er hat nicht einmal das Recht, die von ihm entdeckten Planeten selbst zu benennen. Seine »Maximiliana« wird in Deutschland von Amts wegen in »Kybele« umgetauft. Überall entdecken wir in Schamonis Meisterwerk Spuren, die auf das Leben Max Ernsts verweisen. Für die noble Zurückhaltung Max Ernsts, mit der er am eigenen Leib erfahrene Ungerechtigkeiten elegant überspielt, lassen sich auch im wirklichen Leben viele Beispiele entdecken. Denken wir nur daran, dass eine der großartigsten Entdeckungen Max Ernsts, das Dripping-Verfahren, das er selbst Pollock und den jungen amerikanischen Künstlern vorgeführt hatte, von diesen als eigene Erfindung reklamiert wurde. Eine chauvinistische amerikanische Kunstgeschichtsschreibung hat den Namen Max Ernsts einfach unterschlagen. Das Thema des Films, Tempel und seine Maximiliana, forderte Max Ernst in zweifacher Weise zur Auseinandersetzung in seinem bibliophilen Buch Maximiliana heraus: zur Nahsicht auf die menschliche Dummheit in den Texten und zur Fernsicht, zum Erleben interstellarer Räume. In den Blättern des Buches, die kosmische Räume vorführen, tauchen regelmäßig große, das Blatt dominierende Gestirne auf. Der Welt der Buchstabenfülle entsteigt das Einzelzeichen und wird zur Gestalt. Die Gegenüberstellung von Schrift und Sternen könnte man vielleicht so deuten: Wie dann und wann ein Stern aus der unendlichen kosmischen Vielzahl als Komet auftaucht, so erkennt man auch in den Haufen des Unverständlichen hin und wieder ein Schriftzeichen, dessen Botschaft verständlich ist. Den Grenzen des Sehens entsprechen die Grenzen des Verstehens. Es gibt in meinen Augen, abgesehen von Clouzots »Le mystère Picasso«, keinen Film über einen Künstler, der den Betrachter derart existentiell zu packen vermag. Als Willy Brandt Max und Dorothea zu einem zweitägigen Besuch in den Kanzlerbungalow nach Bonn einlud, schauten wir gemeinsam mit einigen Freunden, darunter Günter Grass und Horst Ehmke, gerührt diesen kleinen Film an. Als Geschenk hatte Max Ernst eine kleine Bronzeskulptur in seinen Mantel gesteckt und Willy Brandt überreicht. Dieser hatte bereits 1971 bei einem Galadiner, das er für Max Ernst im Brühler Schloss ausrichten ließ, voller Bewunderung seine Nähe zu dem Künstler, zu dessen Sehnsucht nach Freiheit, zu seiner unbestechlichen politischen Haltung, die ihn in die Lager und ins Exil geführt hatten, bekundet. Auf Wunsch von Max gab vor dem Essen Karlheinz Stockhausen mit dem Kölner Studio für elektronische Musik im Treppenhaus von Johann Balthasar Neumann ein Konzert. Der Komponist, der seit längerer Zeit mit Max befreundet war, hatte ihm das Projekt gewidmet, das er im Jahr zuvor in der oberen Höhle von Jeita im Libanon aufgeführt hatte. Diese Faszination drückte sich auch in Bildern aus, die im Umkreis der Maximiliana entstanden und eine Mischung aus Sternbildern und Kaligrammen sind. Milchstraßen entsprechen in Max Ernsts Harmonielehre zahllosen nicht entzifferbaren Schriftzeichen, die er für die Bilder und Bücher dieser späten Jahre entworfen hatte.
Die erste Unterhaltung mit Max war offen, voll köstlicher freier Formulierungen. Immer wieder tauchte er in Erinnerungen ein, ohne dass er diesen eine größere Bedeutung beigemessen hätte. Dies alles geschah ohne jede Pedanterie. Ich stellte Frage um Frage. Wir schauten zusammen Fotos an. Nie wurde die Grenze zu Ausdeutung und Interpretation überschritten, obwohl meine Imagination angesichts dieser Bilder überquoll und ich Max schilderte, was ich spürte oder zu entdecken glaubte. Er hörte sich alles mit Engelsgeduld an, unterbrach mich immer wieder mit einem »Ja, das könnte man meinen, das könnte man sagen« und meinte damit, dass man sehr wohl Eigenes hineinprojizieren solle, aber nicht davon ausgehen dürfe, man habe Gewissheit erlangt. Die Frage nach der Bedeutung einer Szene, eines Attributs, die man gewöhnlich einem Bild stellt, kehrte Max Ernst um. Nicht wir sollten die Bilder nach ihrer Bedeutung befragen, sondern wir müssten zulassen, dass die Bilder an uns die Frage richten, was wir denn eigentlich selbst bedeuteten.
Nach dem ersten Gespräch im Wohnzimmer nahm er mich mit, um mich seiner Frau Dorothea vorzustellen. Sie saß an einer Nähmaschine im Stock darüber und arbeitete an einer ihrer Stoffskulpturen. Unter ihren Händen entstanden Figuren und Objekte, die einem wie das Zubehör eines schlimmen Traums vorkamen, wie
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