Mein Glueck
Dinge, die als Belege nächtlicher Albträume an die Oberfläche geschwommen waren. Dorothea lud mich liebenswürdig und höchst charmant ein, zum Mittagessen zu bleiben. Welche Geselligkeit und Zwanglosigkeit konnte ich hier erleben! Max war ein meisterhafter Barkeeper. Eine seiner Spezialitäten war Whiskey sour in der Mischung 5–3–2. Dazu verwendete er ausschließlich Jack Daniels Tennessy Sour mash. Man Ray war zum Essen gekommen ebenso wie der Dichter Georges Ribemont-Dessaignes, der nicht weit von Seillans in dem Dorf Saint-Jeannet wohnte, in dem eine Szene aus Hitchcocks »Über den Dächern von Nizza« mit Grace Kelly und Cary Grant gedreht worden war. Zu trinken gab es bei jedem Essen ausschließlich roten Bourgeuil oder Wein aus Chinon, den Max Ernst der Steinmetz Chauvelin lieferte, mit dem er gemeinsam seine monumentalen Skulpturen und die Fontaine d’Amboise gefertigt hatte. Diesen Wein zog er bei weitem jedem Bordeaux oder Burgunder vor. Die drei Männer waren enge Freunde geblieben, seit sie sich für die Publikation Dada au grand air bei gemeinsamen Ferien 1921 in Tirol erstmals begegnet waren. Max Ernst erwähnte, er wolle demnächst Ribemont-Dessaignes’ antimilitaristisches L’Histoire du Soldat , aus dem er bei Tisch viele böse Stellen zitierte, mit Lithographien illustrieren. Man Ray, in der Regel eher mürrisch und kurz angebunden, lebte unter den Freunden auf. Zu Max hatte er ein besonderes Verhältnis, nicht nur weil beide – Juliet Browner und Man Ray, Dorothea Tanning und Max Ernst – in Beverly Hills eine Doppelhochzeit gefeiert hatten. Sie kannten sich seit ewigen Zeiten. Für die erste Ausstellung Man Rays in Paris, in der Librairie Six, hatte Max Ernst 1921 ein Vorwort geschrieben. Und Man Ray erwähnte bei Tisch, dass ihn Max auf das Institut Henri Poincaré in Paris aufmerksam gemacht hatte, das eine außergewöhnliche Sammlung von mathematischen Modellen aus Holz und Metall verwahrte. Zervos veröffentlichte 1926 in den Cahiers d’Art eine Auswahl der Aufnahmen, die Man Ray von dort mitgebracht hatte. Max Ernst hatte selbst 1919 in die erste Dada-Ausstellung, die er in Köln organisierte, mathematische Objekte aufgenommen. Die Beschäftigung mit Naturwissenschaften war für ihn eine unerschöpfliche Quelle. Bei einem Zusammentreffen mit Max Bill sei es, erzählte Max, 1936 im Château de La Sarraz bei Genf zu einer köstlichen Szene gekommen. Max drehte aus einem Band Papier eine Schleife, die nur eine Kante und eine Fläche besaß und erklärte Bill die Besonderheiten des Möbiusbandes. Max Bill, der dieses offensichtlich nicht kannte, sei verblüfft gewesen und habe gefragt, ob Max Ernst diese zweidimensionale Struktur als Skulptur ausführen wolle. Als dieser ablehnte, bat ihn Bill, ob er ihm dann diese Idee überlassen könne. Und Max versprach, das Band gehöre von nun an Bill und er werde dies niemandem weitersagen.
Dass damals Max Bill im Gespräch mit Max Ernst auf Skulpturen zu sprechen kam, war nicht verwunderlich, hatte Max Ernst doch zwei Jahre zuvor, während eines Sommeraufenthalts bei seinem Freund Giacometti in Maloja, schwere, zum Teil riesige Kiesel mit Hilfe von Pferden aus dem Gletscher gezogen und entweder bemalt oder mit Reliefs verziert. Im Sommer standen sie, wie die Menhire von Carnac, säuberlich aufgereiht vor dem Haus, in dem die Giacomettis einige Monate verbrachten, im Winter ließ sie die Mutter ins Haus transportieren. Max verschenkte diese Skulpturen später und erzählte, auch Bill habe er gestattet, eines der steinernen Rieseneier abzuholen, und fügte hinzu: »Natürlich suchte sich Bill das größte Ei aus.« Man Ray gab während des Essens in Seillans seine Absicht bekannt, die Bilder und Objekte, an denen er eben arbeite, für die Ausstellung »Les invendables« zusammenzustellen. Drei Jahre später kam diese in der Galerie des Lithographen Alphonse Chave und seines Sohns Pierre in Vence zustande.Zur Eröffnung fuhren wir alle dorthin, und die Idee, voller Ironie mit Plakaten auf Exponate hinzuweisen, die wohl niemand zu kaufen bereit war, regte Max dazu an, kurze Zeit danach bei Chave seine neuesten Arbeiten unter dem vergleichbar paradoxen Titel »Max Ernst ne peint plus« zu zeigen.
Man kann sich heute kaum mehr eine Vorstellung davon machen, in welcher Ruhe und Ungestörtheit damals so bedeutende Menschen wie Max Ernst oder Man Ray leben konnten. Die Öffentlichkeit, die Journalisten, kümmerten sich so gut wie nicht um sie. In
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