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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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begann. Max Ernsts Wiederbegegnung mit sich selbst, mit seinen früheren Arbeiten, deren Zeuge wir bei der Zusammenarbeit am Œuvre-Katalog werden durften, seine Freude über die Rückkehr in die eigene Geschichte, war das größte Geschenk, das man Sigrid und Günter Metken und mir machen konnte. Nach und nach waren wir wirklich besessen von dieser Recherche und von der Fülle des Neuen, das wir zutage förderten. Unsere Arbeit hatte sich herumgesprochen. So konnte es auch vorkommen, dass Leute mit den unwahrscheinlichsten Bildern kamen, um sie Max und uns vorzulegen. Einmal schleppten zwei Kunsthändler ihren Fund, eine monumentale Nackte, herbei, die augenzwinkernd auf dem Sofa ruhte. Das sei die Tochter der Concierge, die früher einmal Max Ernsts Appartement betreut habe. Als Max Ernst in Gegenwart von Dorothea den Kopf schüttelte, zogen sie wieder ab, aber ich hörte, wie die beiden auf der Treppe einander zuflüsterten: »Schade, dann werden wir das Bild halt Magritte zuschreiben.«
    Ich legte Max regelmäßig die Sendungen und Neuzugänge vor, und wir merkten, wie er auf diese Weise begann, sein eigenes Werk wiederzuentdecken. Selbstverständlich wurde alles aufgenommen, auch die winzigsten und unscheinbarsten Dinge. Dies amüsierte Max, und er schrieb mir damals in die Ausgabe seiner Écritures unter eine kleine Zeichnung die anspielungsreiche Widmung »A Werner Spies: für ihn ist kein Knirps zu klein, für ihn ist kein Riese zu groß«. Wie häufig hörte ich den Satz: »Das hatte ich ganz vergessen.« Es waren vielfach Arbeiten, die in keinem Katalog verzeichnet waren, für die sich keine Wirkungsgeschichte nachweisen ließ und von denen Max Ernst selbst nie Fotografien besessen hatte. Grund hierfür war auch, dass sein Werk, verglichen mit dem anderer Künstler, lange Zeit so gut wie keinen Marktwert hatte. In akribischer Arbeit setzten wir nach und nach die Steine eines immensen Puzzles zusammen, das die Umrisse eines überaus reichen und vielfältigen Werks zu zeigen begann. Es gelang uns, eine erste ungefähre Chronologie der Arbeiten aufzustellen. Hier setzte Max Ernsts fabelhaftes Gedächtnis ein. In vielen Fällen erinnerte er sich an die Umstände und an technische Details, die das Entstehen begleitet hatten, etwa an eine Reise nach Maloja zu Giacometti oder zu seinen Freunden Giedion in Zürich – mit Carola Giedion-Welcker hatte er vor dem Ersten Weltkrieg im kunsthistorischen Institut der Universität Köln studiert – oder aufs Schloss Vigoleno in der Nähe von Piacenza, wo er beim Prinzen Ruspoli Ferien verbringen durfte. Dort war ein großer Teil der Collagen für Une semaine de bonté entstanden. Und nicht zuletzt das berühmte, großformatige »Foresta imbalsamata«, das der Gast über Nacht einfach an die Stelle der Tafel des Hauptaltars der Schlosskapelle, eine mittelmäßige Darstellung des heiligen Georg, setzte. Oder er identifizierte ein Bildchen, das er einem Postbeamten schenken musste, um in den fünfziger Jahren endlich für die Pariser Wohnung zu einem Telefonanschluss zu kommen. Dagegen weigerte er sich, eine Ansicht des Lagers in Largentière, in dem ihn die Franzosen zu Beginn der Feindseligkeiten internierten, als eigenhändig anzuerkennen. Max hatte das Bildchen dem Lagerkommandanten zum Abschied geschenkt, und dieser hatte ihn in den sechziger Jahren um eine Bestätigung der Authentizität gebeten. Der Brief, den der Besitzer erhielt und in dem die Gründe der Weigerung dargelegt werden, ist ein köstliches Dokument, ein Zertifikat ex negativo. Im einen oder anderen Fall suchte Max die Spreu vom Weizen zu trennen und fragte mich, ob ich unter die Reproduktion nicht »fraglich« setzen könne. Ich erklärte ihm daraufhin, dass man seine Jungfräulichkeit ja schließlich auch nicht nur ein bisschen verlieren könne.
    In Paris kam ich fast jeden Tag bei ihm in der Wohnung und im Atelier vorbei. Ab und zu ging es auch ins Theater. Zusammen trafen wir Bob Wilson, der zu einer ersten Aufführung im Théâtre Récamier nach Paris gekommen war. John Cage und die großartige Mitarbeiterin von Alexandre Iolas, Bénédicte Pesle, die sich damals bereits für John Cage und Merce Cunningham einsetzte, schlugen uns diesen Besuch vor. Im Foyer des Theaters hatte Bob Wilson zahlreiche Reproduktionen aus Max Ernsts Collageromanen La femme 100 têtes und Une semaine de bonté an die Wände gepinnt. Es war eine verstörende Zurschaustellung. Diese in der Bewegung arretierten Blätter

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