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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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Impressionismus.« Sein Hauptmotiv für den Verzicht auf Malerei erklärte er mit dem Hinweis, er sei damals von so vielen bedeutenden Künstlern umgeben gewesen. Er verwies auf Picasso, Braque, Matisse, Gris, Léger, Laurens, Derain, Vlaminck, Delaunay, Chagall, Brancusi, van Dongen und auch auf die ansehnliche Reputation der eigenen zwei Brüder. Dann resümierte er: »Ich wusste aus der Geschichte, dass in einer Generation nur Platz für ein Genie ist.« Deshalb habe er etwas anderes unternommen, etwas anderes gesucht. Es war ein immenser Stolz und ein unbändiger Wille, nicht als Zählkandidat der Moderne genommen zu werden, sich von allen abzusetzen, einzigartig zu sein, der sich hier äußerte. Nicht von ungefähr zählten zu seinen ständigen Lektüren Zarathustra und Stirners Der Einzige und sein Eigentum . Ich bin überzeugt, dass Duchamps Bezug auf Stirner, der bisher vollkommen übersehen wurde, ungemein wichtig ist, um sich der Aktivität eines Mannes zu nähern, der dem Goethe entlehnten Motto »Ich hab’ Mein Sach’ auf Nichts gestellt« zu folgen suchte. Ein Satz aus Stirners unentwegt aufs eigene Ich bezogenem Denken ließe sich heranziehen: »Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer alles schaffe.« Duchamp hat dafür mit seinem Werk »Trois Stoppages-Etalon«, mit dem er ein unwiederholbares, nur für sich und auf sich anwendbares Metermaß schuf, ein unübertreffliches Zeichen gesetzt.
    Nach einem heiteren Abendessen mit Freunden, mit Man Ray und Robert Lebel, dessen Frau und Teeny, zog er sich in das Badezimmer zurück, um in einem Buch eines seiner Lieblingsautoren zu lesen. So wie ich einen Band von Aufsätzen bei Hanser betitelte, starb Marcel Duchamp an einem Lachanfall. Er blieb Rouen, der Stadt Flauberts, treu und wurde im Cimetière Monumental, auf dem sich auch die letzte Ruhestätte des Autors von Madame Bovary befindet, im Familiengrab beigesetzt, von dem aus man einen unbegrenzten Blick auf Rouen und das Tal der Seine hat. Für den Grabspruch auf dem Stein hatte er eine Sentenz als Readymade ausgesucht: »D’ailleurs c’est toujours les autres qui meurent.«
    Zehn Jahre nach seinem Tod erlaubte ich mir als Hommage an Marcel Duchamp ein Readymade. Auf den ersten Flügen mit der Concorde konnte man sich ein Diplom ausstellen lassen, das den Flug zertifizierte. Ich füllte den Antrag mit dem Namen Marcel Duchamp aus und erhielt einige Wochen später ein imposantes Schmuckblatt, das Monsieur Marcel Duchamp bestätigte, er habe am Soundsovielten auf dem Flug nach New York die Schallgrenze durchbrochen. Wer hätte spektakulärer als er Grenzen in Frage gestellt? Ich überreichte diese Urkunde Pontus Hulten, der sich vor Freude fast überschlug. Sie müsste sich heute in dem Fundus der Papiere befinden, die nach seinem Tode zusammen mit der Bibliothek Hulten als Geschenk ans Moderna Museet in Stockholm gegangen ist. Im nachhinein blieb die Herausforderung durch Duchamp für mich ebenso lebendig wie die durch Beckett, Nathalie Sarraute, Picasso und Max Ernst. Mir wurde klar, dass es hier nicht nur um Veränderungen des Stils ging, um Arbeiten, die sich mit Begriffen wie Avantgarde oder Revolution zähmen ließen. Hier waren andere, fürchterlichere Kategorien erforderlich. Ich fand sie in einem Satz des Augustinus »Glaubt doch nicht, dass Ketzereien durch ein paar hergelaufene kleine Seelen entstehen könnten. Nur große Menschen haben Ketzereien hervorbracht«. Denn was waren die großen Umstürzler in der Kunst und Literatur anderes als Ketzer, die letztlich ernsthafter an das glaubten, was durch ihr Zutun dran glauben musste?
    Als ich versuchte, mir einen Überblick über das Werk von Max Ernst zu verschaffen, stellte ich fest, dass dies in seiner ganzen Breite unbekannt war. In den raren Publikationen und in den Ausstellungen waren zumeist dieselben Bilder, Zeichnungen und Skulpturen aufgetaucht. Siebzig oder achtzig Prozent seiner Werke waren damals in aller Welt verstreut. Es war unmöglich, sich eine kohärente Vorstellung vom Umfang und von der Vielfalt des Werks zu machen. Natürlich gab es auch keinen Œuvre-Katalog, nicht einmal einen Ansatz, ernsthaft die Entstehung des Werks zu dokumentieren. Im Unterschied zu allen berühmten Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts war die Welt Max Ernsts ein unbekannter oder unentdeckter Kontinent. Irgendwie spiegelte dies die Sonderstellung Max Ernsts

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