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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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ihnen gibt, dass zwischen einzelnen Personen der Bewusstseinsstrom einfach hin- und herfließen kann. Alle zusammen bilden ein »allmächtiges Ich«. Die goldenen Früchte , auf den ersten Blick die kostspielige Unterhaltung eines mondänen Zirkels, ist im Grunde ein dramatisches, aufrührerisches Buch. In ihm häufen sich Bilder und Wörter, die strategischen Auseinandersetzungen, ja dem Krieg entnommen sind. Hinter dem Text scheint das Leben durch. Es öffnet sich in Tiefen, die an Pascal erinnern. Die Tropismen, die kaum vernehmbaren psychischen Regungen, schreiben in den unheimlichen Raum der Unendlichkeit und des Nichts ihre Signatur.

    Monique Wittig, Nathalie Sarraute und Monique Spies

    Ein Buch wie Les Fruits d’or , das zeigt sich eigentlich erst aus größerem zeitlichem Abstand, erschien nicht von ungefähr im selben Jahr wie Fellinis »Otto e mezzo« (»Achteinhalb«). Fellini liefert eine Darstellung des künstlerischen Prozesses, die starke Parallelen zum Thema des Buches aufweist. Es gibt auch hier keine Geschichte, und es treten keine Figuren auf, deren Leben erzählt wird. In den Mittelpunkt rückt ein somatischer Eindruck, der an Nässe, Blut und Lymphe denken lässt. Verglichen mit den früheren Romanen und den Hörspielen, die die Gefühle so fein tranchierten, dass sie beinahe durchsichtig werden, hatte ich bei Les Fruits d’or den Eindruck, Nathalie liefere eine viszerale Psychologie, in der sich alles verflüssige, in der alles mit dem Leib verbunden sei. Ich denke dabei auch an eine Stelle aus dem Zauberberg , in der der als Maler dilettierende Hofrat Behrens die Oberflächlichkeit der Körperwelt in Frage stellt: »Es ist eben gut und kann nichts schaden, wenn man auch unter der Epidermis ein wenig Bescheid weiß und mitteilen kann, was nicht zu sehen ist – mit anderen Worten: wenn man zur Natur noch in einem anderen Verhältnis steht als bloß dem lyrischen.«
    Les Fruits d’or war ein Buch, das zum Mai 68 passte. La Quinzaine littéraire setzte unübersehbar und provokativ ein Zitat aus dem Roman auf die Titelseite: »Man muss alles zerstören.« Es ist erstaunlich, welchen Eindruck dieser Satz machte. Ich sehe immer noch, wie Marguerite Duras ihn aufnahm und im kommenden Jahr zum Titel ihres Buches Détruire dit-elle abwandelte. In diesem seltsamsten, negativsten Roman erreicht das Erzählte seinen Zenit, so dass der Leser etwas wie eine Gehirnwäsche erfährt. Eine nur noch psychische Masse wandert zwischen den Personen hin und her. In den Gesprächen mit Marguerite Duras in ihrer Wohnung in der Rue Saint Benoît oder in einem von Balken durchkreuzten Raum im Landhaus in Neauphle-le-Chateau im Westen der Stadt erläuterte sie mir die Einsamkeit und die Verlorenheit, die ich bei meiner Übersetzung von Ganze Tage in den Bäumen gespürt hatte. Es ist dies ein Stück totaler Entfremdung, in dem eine Art somnambule Empfindungslosigkeit waltet, die sich der Erkenntnis verdankt, dass die »Täterschaft« eitel und unbegründbar bleibt. Dieselbe Apathie herrscht auch in ihrem unheimlichen Die Viadukte , in dem ein altes, debiles Ehepaar einen Behinderten umbringt, ihn zerstückelt und Rumpf, Kopf und Glieder von einem Viadukt aus in Waggons von Güterzügen wirft, die in entgegengesetzte Richtungen fahren. Ein Klavier stand in Neauphle-le-Château im Salon. Die drei miteinander verbundenen, kahlen Gebäude lagen an einem kleinen, mit grünen Algen überzogenen Teich. Auf der Gartenseite war die Fassade dicht bewachsen. Auf die Frage, wie der Mann, von dem Détruire dit-elle handelt, früher gewesen sei, antwortete sie: »Ein Mensch, der sich in der alten Welt verheddert hatte.« – »Und was ist er jetzt?« – »Ohne Referenzen und ohne Gedächtnis.« Und sie fügte hinzu: »Sind so nicht die Menschen heute? Es sollen Mutanten sein.« Man war versucht, in Marguerite Duras’ Buch einen Abgesang auf die Möglichkeit einer Revolution zu vernehmen.
    Das Wort Nathalies, das an Hunderten Zeitungsständen in der Stadt angeschlagen war, klang ungewohnt, ja abwegig für eine Schriftstellerin, die kategorische Antworten immer gehasst hat. Doch der Protest in den Büchern Nathalie Sarrautes, der aus der Mitte der gutbürgerlichen Klasse geführt wurde, reicht über praktische Probleme hinaus. Letztlich hielt Nathalie Sarraute nicht viel von Marguerite Duras, das war für sie Bahnhofsliteratur. Ihre eigenen Bücher gehen über den soziologisch nachprüfbaren Tatbestand hinaus, sie vergreifen sich

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