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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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komische Situationen in den Vordergrund treten lassen, entscheidend bleibt die Infragestellung der Beziehungen der beschriebenen Menschen, die sich in ihrer unaufhaltsamen Auseinandersetzung mit der Wahrheit zerfleischen. Die Komik dient als Repoussoir, sie unterstreicht die Ausweglosigkeit. In diesem Punkt nähert sich ihr Werk dem einzigen, immensen Gegenpol der Zeit, Beckett. Slapstick bei Beckett, Bergson’sches Inventar des Lächerlichen bei Sarraute. Gewissheiten und Stereotypien halten dem Zweifel stand. Auch die genaueste Erforschung und Introspektion entlässt keine beschreibbaren, mit sicheren Charaktereigenschaften ausgezeichneten Wesen in die Gesellschaft. Auch gibt es keine Katharsis in diesen durchwegs mit bürgerlichen Motiven und Ängsten bestückten Höllen.
    Das tatsächliche Zusammensein mit der Autorin wurde zu einem Eiertanz. Man wird nachvollziehen können, dass ich, ausgehend von meiner Erfahrung mit ihrem Werk, jedes Wort, das ich an sie richtete, genau überlegte und mir dabei ständig misstraute.
    Wie schnell konnte ein Wort fallen, das sie manchmal erst Wochen später wieder hervorholte und einem vorwarf. Alles konnte einen in eine Situation versetzen, aus der es keinen Ausweg gab, aus der man sich vor allem nicht herausreden durfte. Einmal entdeckte ich bei ihr im dunklen Arbeitszimmer zwei schneeweiße Teppiche. Ich gratulierte Nathalie zu diesem Kauf und handelte mir eine Antwort ein, die mir überaus peinlich war. Nein, diese Teppiche seien nicht neu. Sie habe sie bloß in die Reinigung gegeben. Und hinter dieser Feststellung spürte ich den Vorwurf, den sie sich und mir machte. Ich, so meinte sie, habe zuvor auf dem Parkett unzumutbar schmutzige Fetzen gesehen und wolle sie nun mit meiner Bemerkung erniedrigen und bloßstellen. Der Kontakt mit anderen bedeutete für sie eine »angoisse perpétuelle«, eine ständige Furcht. Dazu gehörte die Härte der Stadt, die ihre Grausamkeit so weit treibt und formalisiert, dass man es als unanständig empfindet, wenn man auf die Begrüßung »Ça va?« anders als mit einem netten Lächeln reagiert. In solchen fragilen Situationen brauchte es Zeit, um wieder in ruhiges Fahrwasser zu gelangen. Man zitterte ständig vor ihrer unerhörten, so noch nie zuvor erlebten Lust, auch nur die geringste Geringfügigkeit unkommentiert zu lassen. Dabei konnte sie auch auf Gespräche zurückkommen, die man selbst längst vergessen hatte. Das Schlimmste passierte mir, als ich einige Jahre nach dem Tode ihres Mannes Raymond Sarraute vorschlug, zusammen mit Monique alles für ein Picknick mitzubringen, lauter Dinge, die sie mochte, Lachs, Stör, schwarzes russisches Brot und ein Glas mit den dicken Salzgurken Malossol. Ich meinte, dann könnten wir doch endlich wieder das Speisezimmer, in das wir nie mehr den Fuß gesetzt hatten, aufschließen und benutzen. Seit dem Tode Raymonds bewirtete sie uns in ihrem riesigen Appartement, in dem sie meistens ganz allein lebte, stets in einem anderen Raum. Sie hörte sich meinen Vorschlag an, dankte für die Initiative. Am nächsten Morgen rief sie früh an und klagte, sie habe die ganze Nacht kein Auge zumachen können. Es sei absolut unmöglich, den Raum zu benutzen, den sie selbst seit Jahren gemieden habe. Sie könne da nicht mitmachen, und sie bat uns dringend, diesen Vorschlag zu vergessen. Man legte bei ihr jedes Wort, jede Geste auf die Goldwaage, erkannte recht schnell auch ihre Aversion gegenüber Schnittblumen. Die Suche nach einer passenden Vase war für sie eine große Bürde. Monique fand die Lösung in Topfpflanzen. Zu Weihnachten brachten wir ihr regelmäßig neben Süßigkeiten weiße Weihnachtssterne. Doch auch hier war ich letztlich unsicher. Als jemand, der sie genau zu kennen glaubte, schaute ich besorgt zu, wie sie diese Blumen ein wenig zu lang betrachtete und bewunderte. In den Spiegelkabinetten der Gefühle und Meinungen, die sie in ihren Romanen, in Portrait d’un inconnu ( Porträt eines Unbekannten ), Martereau ( Martereau ) oder Les Fruits d’or ( Die goldenen Früchte ), baut, werden unerbittlich die großen Themen zerpflückt: Besitz, Kampf der Generationen, Liebe, ästhetische Überzeugungen. In der pausenlosen Auseinandersetzung der Personen, die in den Fruits d’or auftreten, bleiben die Grenzen offen: Das ist die geniale Entdeckung der Nathalie Sarraute, dass die Personen nicht nur, wie es die Surrealisten zeigten, sich selbst weiterreichen, sondern dass es auch keine Grenzen zwischen

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