Mein Glueck
geglaubt, nicht für das Theater schreiben zu können. Aber eines Tages traf es sich, dass ich Besuch von einem jungen Deutschen bekam, Werner Spies, der vom Radio in Stuttgart beauftragt worden war, französische Autoren zu kontaktieren und sie um Beiträge für den Sender zu bitten. Zuerst habe ich abgelehnt. Werner Spies kam mit seinem Auftrag mehrere Male wieder, mir versichernd, dass ich schreiben könne, was ich wolle, ungeachtet einer auch ungewöhnlichen Form. Das, was sich dem Leser in meinen Romanen durch die unterschwellige Kommunikation, den Vor-Dialog, Empfindungen, Eindrücke, das ›Erlebte‹ als Handlungsstrang über Bilder und Rhythmus vermittelt, würde sich hier im Dialog selbst entfalten. So würde aus dem Innen ein Außen, und ein Kritiker hat später, über diesen Übergang vom Roman zum Hörspiel, ganz zu Recht von einem nach ›außen gewendeten Handschuh‹ gesprochen.« Der Zwang, unter dem die Personen sich einander öffnen und sich in – für französische Verhältnisse – beinahe ungehöriger und schamloser Weise mitteilen, lässt jede Meinung und jedes Gefühl in einem alles zerstörenden Säurebad korrodieren. Ein Gespräch ist in Gang gekommen, plätschert in einer uneigentlichen Sphäre dahin, bleibt Salongespräch, Konvention, in der auf Fragen lediglich von der Gesellschaft tolerierte Antworten gegeben werden. Plötzlich bricht die Unterhaltung ab. Ein schweigender Mann rückt in den Mittelpunkt. Sein Mutismus wirkt wie ein Katalysator. Es ist eine Situation, die wir aus unserer Lebenswirklichkeit kennen. Das Schweigen einer Person, dessen Dauer nicht mit einem witzigen Satz, einer Frage oder einer Anekdote abgetan werden kann, wird zum Ziel ständig wachsender Aggressivität. Wer schweigt sich aus, ein Dummkopf oder ein Genie? Das Gespräch wird auf die Ebene der Tropismen verlagert, ist imaginäre Konversation. Der Ton, den Nathalie Sarraute im Hörspiel gefunden hat, ist eigenartig, unwirklich. Das Hörspiel zwang sie dazu, die unterschwellige Kommunikation, die in den Romanen beschrieben wird, völlig neu zu fassen. Ein aggressives System der Rhetorik bereitet hier den gesprochenen Satz vor. Und was vorher über die Voraussetzungen des Satzes gemutmaßt werden konnte, war ebenso wichtig wie der Satz selbst. Es ist wie mit einer Melodie, die wir aus einer Symphonie lösen und vor uns her singen. Die einstimmige Melodie ist nur im Zusammenhang verständlich, dann, wenn wir gleichzeitig die ganze Partitur der Phrase im Ohr haben. Nathalie Sarraute stand vor der Aufgabe, für das Hörspiel Klartext und unterschwelliges Reden zusammenzuführen. Die Lösung, Kommentar und Dialog wie in einer Funkerzählung zu verbinden, verwarf sie von Anfang an. Sie suchte ein System, das einen ungebrochenen Übergang von Vorbereitung zu Aussage gewährt. Im Roman ist dieser Übergang fugenlos. Im Hörspiel wäre allein der Wechsel der Stimme für sie inakzeptabel gewesen. Jean Thibaudeau verglich ihre Stücke mit einem umgekehrten Handschuh. Man rede in diesen Stücken, wie man nicht redet. Am Ende von »Das Schweigen« kehrt das Gespräch wieder zur Wirklichkeit zurück, taucht auf. Nichts ist vorgefallen. Eine kleine, banale Frage hat das Schweigen, das vor fünfundvierzig Minuten begann, erledigt. Diese fünfundvierzig Minuten sind irreal, sie dauern in Wirklichkeit nur einige Sekunden. Mit »Das Schweigen« begann eine epochemachende Zusammenarbeit von Nathalie Sarraute mit dem Medium Rundfunk. Später kamen die Stücke in Frankreich auch auf die Bühne und hatten großen Erfolg, ja waren für Nathalies Reputation entscheidend. Sie war überglücklich. Wir reisten wiederholt nach Stuttgart. Dort hielt sie, unter anderem am 29. Januar 1965 , im Institut Français in der Heidehofstraße eine Lesung. Sie freute sich, mit Max Bense und Helmut Heißenbüttel zusammenzutreffen. Bense war überaus gut informiert über das, was sich im literarischen Leben von Paris abspielte. Ich spürte bei ihm eine gewisse Eifersucht auf den Erfolg der Gruppe um Tel Quel . Was er ihr genau vorwarf, konnte ich nicht herausbringen, doch schrieb er mir am 9. Dezember 1963: »Warum sind Tel Quel so skandalös naiv und niveaulos?« Er lebte mit seinem Glauben an die Informatik und an die Programmierbarkeit von Hirn und Kunst sicher auf einem anderen Stern. Uns erheiterte, als man in Stuttgart erzählte, Bense habe einen Computer mit dem Vokabular von Goethes »Über allen Gipfeln ist Ruh« gefüttert, um zu
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