Mein Glueck
auch, dass Picasso derart possessiv an seinen Skulpturen hing, dass er nie ein originales Stück herausgeben würde. Allein ein Stillleben aus dem Jahre 1914 hatte er seinem Freund Paul Éluard geschenkt. Viele trugen zu meiner Arbeit bei. Christine, die Frau von Polo Picasso, die ein Kurzwarengeschäft in der Rue du Dragon führte, machte mir kleine plastische Fingerübungen Picassos zugänglich. Ich traf sie dann und wann zusammen mit Polo und ihrem kleinen Sohn Bernard in Saint-Hilaire. Pierre Daix, der auf überaus gründliche und kenntnisreiche Art so etwas wie ein Pfadfinder auf den verschlungenen Pfaden durch das Werk Picassos geworden war, Roland Penrose und Douglas Cooper informierten mich über alles, was sie zum Thema wussten. Und dann kamen die Treffen mit Brassaï, der mir seine gesamten Kontaktabzüge vorlegte und für die Publikation großzügig seine außerordentlich wirkungsvollen Aufnahmen von Skulpturen Picassos zur Verfügung stellte. Er war wie kaum ein anderer Zeuge im Atelier in Boisgeloup und in der Rue des Grands-Augustins gewesen, und seine Erinnerungen hatten nichts von ihrer verblüffenden Genauigkeit eingebüßt. Die meisten Aufnahmen stammten aus den dreißiger und vierziger Jahren. Brassaï hatte sie mit Magnesiumblitzen gemacht und auf diese Weise einen mit Schatten und Licht lebendig modulierten Blick auf die Arbeiten eröffnet. Picasso liebte Brassaïs Piktorialismus im Umgang mit seinen Skulpturen, der ihn an die Arbeitsweise Edward Steichens erinnerte. Ich machte mich an die Redaktion meines Textes und beschloss eines Tages, da die Fülle der Entdeckungen anschwoll, das Buch zu erweitern und einen ersten Œuvre-Katalog des plastischen Werks anzufügen. Dafür traf ich mich wiederholt mit Françoise Gilot in ihrem Atelier in der Avenue Junot am Montmartre. Für die Arbeiten, die in den vierziger und fünfziger Jahren entstanden waren, blieb sie die unersetzliche Ansprechpartnerin. Sie fand mein Projekt fabelhaft, verwies mich auf Plastiken, die mir bisher entgangen waren, wusste Datierungen richtigzustellen und ermutigte mich in jeder Hinsicht. Die Arbeitssitzungen bei Ursula und Gerd Hatje in Stuttgart im Verlag oder im Garten der Heidehofstraße unterm Nussbaum waren Momente eines großen Glücks. Fabelhaft und entscheidend war die Mitarbeit von Ruth Wurster, deren Genauigkeit nichts entging. Ich habe nie mehr einen Verleger kennengelernt, der so wie Hatje für jedes Buch im voraus die richtige Form kannte. Das hatte ich zuvor schon bei der Arbeit an der »Hommage à Kahnweiler« erlebt. Hatjes Umgang mit Druckfahnen, Bildern, Papieren, Schrifttypen, Formaten, Umschlägen verriet, dass das Glück des perfekten Buchs nicht aus einer Serie von Kompromissen bestehen konnte. Man gewann den Eindruck, für jedes Thema, für jeden Text stehe im platonischen Himmel des Verlegers die richtige Form bereit. Und die galt es zu realisieren. Auch das umfangreiche Material zu Picassos Skulpturen sah Hatje bereits bei den ersten Treffen so greifbar zu einem Band geordnet vor sich, dass man ihn zu dieser Stunde schon am liebsten nach dem ersten Belegexemplar gefragt hätte. Gerd Hatje legte Wert darauf, den Verlag klein zu halten. Er veröffentlichte nur Texte, zu denen er selbst stand. Der Beginn seines Wirkens war eine Tat, die Hatjes antiexpressionistischem Wesen entsprach: Er sorgte für die Heimkehr einer Literatur, die sich Aufklärung und Kritik verschrieben hatte. François Villons Das große Testament , Voltaires Candide , Heines Das Buch le Grand , Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaften oder die Sammlung Lyrik der Verbannten und Verbrannten gehörten zu den Eröffnungszügen. Die Hinwendung zu den Malern, Bildhauern und Architekten, die der Nationalsozialismus verfemt hatte, waren in den fünfziger Jahren die zentralen verlegerischen Aktionen. Bücher entstanden, die keinen Kerzenschein duldeten und die alles daransetzten, die jüngste Vergangenheit nicht mit den Arabesken des Informel zu übertünchen, das damals denen als eine Art Fluchttür diente, die vom Verzicht auf das Reale die Befreiung von der Geschichte erwarteten. Es ging um die kritische Rekapitulation der großen, international wirksamen Tradition, die in Deutschland gekappt worden war. Die Hinwendung zu Freunden in Paris, London, Mailand und New York ermöglichte das langsame Erwachen Hatjes aus dem eigenen Alptraum. Die Mutter war in Auschwitz ermordet worden. Die Freundschaft und das Vertrauen, die Matisse,
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