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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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verfügte so besehen über entscheidende Kategorien im Umgang mit dem, was ihm an zeitgenössischer Kunst begegnete.
    Diese Überzeugung von der notwendigen geschichtlichen Differenz und von der Aufgabe, diese begrifflich zu fassen, war sicherlich für die Beschäftigung mit dem Kubismus entscheidend. Denn in erster Linie ging es auch Kahnweiler bei seiner Diskussion der kubistischen Bilder um deren Platz in der Geschichte, keineswegs um die Behauptung von Novität oder Ex-nihilo-Mentalität. Wir finden deshalb auch in seinen Schriften nie den Begriff Revolution, der sonst alle stilistischen Lizenzen deuten musste. Dass zwischen Artur Rosenauer und mir der Name Kahnweiler überhaupt erstmals im Zusammenhang der Wiener Schule für Kunstgeschichte fallen konnte, unterstrich in meinen Augen zusätzlich Autorität und Legitimität Kahnweilers. Ihm verdanken wir epochemachende Beiträge, die sich so gut wie von allem unterschieden, was über neuere Kunst zu lesen war. Sie hatten nichts mit den eleganten französischen »pièces sur l’art« zu tun, in denen üblicherweise persönliche Stimmungen und Fragilitäten des Moments über die Werke ausgebreitet wurden. Kahnweiler, der Neukantianer, suchte Sicherheiten. Und die Kenntnis und Tradition der Wiener Schule der Kunstgeschichte, das sah ich nach und nach, war für ihn dabei ausschlaggebend, um die Struktur und Formgeschichte des Kubismus darzustellen und dessen Hauptfiguren eine Untersuchung zu widmen, die bis heute eine unumgängliche Referenz geblieben ist. Von seiner Sicht und vom Misstrauen gegenüber dem Hedonismus, in die sich der Kunsthändler und Autor kämpferisch hineinsteigerte, wird noch die Rede sein. Für mich war das, was mir Kahnweiler einbleute, eine Art von Evangelium. Erst später gewann ich bei meiner Begeisterung für den Surrealismus eine völlig andere Sicht auf den Kubismus. Die Surrealisten ließen keine hermeneutischen Harmlosigkeiten zu. Dies verband sie nicht nur mit dem Symbolismus, mit Mallarmé, sondern auch mit dem Zeitgenossen Duchamp, der, was den Kubismus betraf, ja selbst eine völlig andere Version von Zersplitterung und Zerrüttung von Zeit präsentiert hatte.
    Breton und seine Freunde sahen in diesen Bildern keineswegs nur Tektonik und Schrift. Sie erkannten, dass in ihnen das Unerklärliche und Unsichtbare triumphierten, dass es sich dabei nicht einfach um so etwas wie visuelle Lautverschiebungen handelte, die sich logisch von Bild zu Bild verfolgen ließen. Der ethische und politische Hintergrund stand im Vordergrund. Und das wurde für jemanden wie mich, der eine brennende Religiosität hinter sich gelassen hatte, entscheidend. Breton fasst dies im zweiten surrealistischen Manifest in folgende Worte: »Erinnern wir daran: Der Surrealismus erstrebt nichts anderes als die totale Wiedereroberung unserer psychischen Kraft, dies durch ein Mittel: dank des schwindelerregenden Einsteigens in uns selbst, das systematische Ausleuchten der versteckten Orte und das progressive Verdunkeln anderer Orte, das ständige Umhergehen in einer verbotenen Zone. Diese Aktivität hat keine ernsthafte Chance aufzuhören, solange der Mensch ein Tier von einer Flamme oder einem Stein zu unterscheiden vermag …« So stand für Breton und seine Freunde der Hauptbegriff Kahnweilers, »Lektüre«, keineswegs im Mittelpunkt. Dabei kam auch zum Bewusstsein, dass der Begriff »Kubismus« von allen Definitionen der avantgardistischen Bewegungen wohl der beschränkteste war. Er limitierte das, was eine umfassende Veränderung der Mentalität bewirkt hatte, auf einen vergleichsweise plumpen Nominalismus. Weder Futurismus noch Fauves, noch Expressionismus oder Surrealismus hatten unter einer derart scheinbar präzisen, letztlich jedoch einengenden begrifflichen Festlegung zu leiden. Die Surrealisten entdeckten etwas Irrationales, Alchimistisches in diesen Bildern, in denen eine gefährliche Aschenglut funkelte.
    Ich merkte dies im Umgang mit der berühmten »Gitarre«, die Picasso 1912 zunächst aus Papier und dann aus Holz konstruierte. Sie geht eindeutig auf die Begegnung mit afrikanischen Wobe-Masken zurück. Und dabei handelt es sich keineswegs allein um eine formale Verwandtschaft. In diesem Maskentyp wurden die Augen nicht als tiefliegende, in den Schädel eingelassene Öffnungen wiedergegeben, sondern als zylinderförmige Protuberanzen, die aus der flachen Grundplatte, die das Gesicht bedeutet, herausragen. Man denkt an Sehinstrumente, Augenapparate, die

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