Mein Glueck
informelle, abstrakte Kunst, die in den fünfziger Jahren aus allen Ecken zu dringen begann. Doch auf der Universität, in Vorlesungen wäre eine solche Entdeckung damals nicht denkbar gewesen. Das nahm ich zwei Jahre später wahr, als ich in Tübingen studierte und mitbekam, wie Wilhelm Boeck, der, nach Alfred Barr, Picasso die erste umfangreiche Monographie gewidmet hatte, von seinem Kollegen, dem Nationalsozialisten und früheren Aushängeschild der Reichsuniversität Straßburg Hubert Schrade auf böse und gemeine Weise gemobbt wurde. Boeck war in der Universität – das war vor 1968 – marginalisiert. Er war ein Mann, über den die Kollegen lächelten. Solche Verhaltensweisen habe ich immer unerträglich gefunden. Und deshalb bin ich unter anderem auch aus Tübingen weggegangen.
Damals eine Vorlesung wie »Cézanne, die Wende der Malerei« zu hören war offensichtlich nur bei diesem unabhängigen und keineswegs kommoden Mann, der einige Lehrveranstaltungen gerne zu Hause, privat abhielt, möglich. Boeck hatte etwas Unwirsches und Misanthropisches. Dies zeigte sich auch darin, dass er sich eine Festschrift verbat. Er veröffentlichte stattdessen 1968 eine kleine Broschüre, die ein Thema behandelte, das zwischen Selbstmitleid und Selbsthass schwankte: »Inkunabeln der Bildniskarikatur bei Bologneser Zeichnern des 17. Jahrhunderts«. Man musste sich dazu überwinden, in seine Vorlesungen zu gehen. Aber alles war klar, weitab von schwafelnder Ideologie, die seine Fachgenossen über die Kunst geworfen hatten. Das beste Beispiel bietet neben seinem Picasso sein Buch über Rembrandt. Seine Diktion war unbeholfen, pedantisch, alles andere als elegant. Ständig spürte man, dass er sich wie Demosthenes, aber erfolglos, Kieselsteine in den Mund gesteckt hatte. Der formale Blick, den er auf Picasso warf, die überaus detailreichen und spannenden Vergleiche mit der Bildarchitektur Cézannes, die Schilderung des Kampfes um die »réalisation«, all dies waren Beobachtungen und Begriffsbildungen, die dazu dienten, eine neue Bildpoetik zu erkennen. Dabei wurde mir jedoch auch klar, dass sich diesem Werk nicht allein mit Kausalität und temporär verfolgbaren Strukturen beikommen ließ. Und das Geistesgeschichtliche interessierte Boeck, verglichen mit der Hoffnung, die Entwicklung Picassos formal abtasten zu können, so gut wie gar nicht. Ich glaube, es war kein Zufall, dass der Name Kahnweilers und der Hinweis auf die Leistung und Schriften, die sich hinter diesem Namen verbargen, erstmals in Wien fallen mussten.
Später glaubte ich den Grund zu entdecken. Das hatte mit Kahnweilers Beziehung zum tschechischen Sammler und Kunsthistoriker Vincenz Kramár zu tun. Beide vermochten es, in ihren Büchern über den Kubismus, die sie während des Ersten Weltkriegs gleichzeitig in Bern und in Prag schrieben, die neuen, radikalen Werke von Picasso, Braque oder Derain auf eine Ebene zu heben, die nicht an Geschmacksurteile, sondern an historische Deduktion appellierte. Beide wollten im Kubismus nicht nur einen zusätzlichen Stil, sondern die Entelechie der Moderne erkennen. Daniel-Henry Kahnweiler, der zeitlebens den Ehrgeiz besaß, nicht nur als alleinherrschender Kunsthändler, sondern auch als der ausschlaggebende Geschichtsschreiber und Theoretiker seiner Künstler zu gelten, suchte in seinen Begegnungen und in der Korrespondenz, die er mit dem Prager Sammler und Museumsmann führte, die Nähe zu einem Gelehrten, der über den immensen Vorzug verfügte, gewissermaßen als legitimer Vertreter der kunsthistorischen Wiener Schule die Entstehung des Kubismus mitzuerleben und zu kommentieren. Kramár hatte bei Wickhoff und bei Riegl studiert. Und in dieser Zeit freundete er sich nicht zuletzt mit Max Dvorak an, dem späteren Autor von Kunstgeschichte als Geistesgeschichte . Und auch Alois Riegls Konzept vom »Kunstwollen« und damit einer Ästhetik, die Geschmacksurteile hinter Fragen der anthropologisch tieferen Bedeutung von Form zurückstellt, beeinflusste Kramár nachweislich. Er greift auf Riegl zurück, wenn er das, was von einem normativen, klassizistischen Anspruch aus gesehen als stilistische Unfähigkeit kritisiert wurde, nun als kalkulierte Intentionalität des Künstlers beschreibt. Die bewusste Abweichung von Kanon und Geschmack steckt hinter dem »Kunstwollen«. Und ebendieses Konzept ließ sich heranziehen, um den Voluntarismus und die Lizenzen der Avantgarde zu erklären. Ein Geist, der an Riegl geschult war,
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