Mein Glueck
ahnen lassen, dass sich mit ihnen in ungesehene Realitäten eindringen lässt. Später entdeckte ich im Nachlass des Künstlers ein Zitat, das er 1917 neben eine Zeichnung eingetragen hatte: »ein Prisma vor das Licht der Röntgenstrahlen gelegt«. Das brachte für mich vieles durcheinander. Das fremdartige Wort erhält auf dem Hintergrund der kubistischen Formzersprengung und Formverdichtung einen prägnanten Sinn. Picassos Hinweis auf das Röntgenbild, das wir durchs Prisma erleben sollen, passt hervorragend auf die alchimistisch aufleuchtende Wesensschau, die die Surrealisten bei Picasso spürten. Überhaupt bot es sich an, in Picassos Bildern und Skulpturen auf die Darstellung der Augen zu achten. Auch für die biomorphen, aufschwellenden Körper, die er in den frühen dreißiger Jahren modelliert, liefert er uns Augen, die zu den Körpern passen. Die Köpfe von Marie-Thérèse zeigen dies: Es sind kugelige Fischaugen, die in der Lage sind, nach allen Seiten hin zu blicken. Überaugen starren uns an. Sie tasten die Welt ab – sie sind Symbol einer visuellen Erlebniswut.
Kahnweilers Ächtung des Hedonismus und der Sensualität, das mutet erstaunlich an, wenn man weiß, dass dieser Mann, der jedes Jahr nach Bayreuth pilgerte, nichts über Richard Wagner stellte und seit seiner Ankunft in Paris im frühen zwanzigsten Jahrhundert jede Aufführung von »Pelléas et Mélisande« in der Pariser Opéra Comique süchtig miterlebt hatte; ein Mann, der schließlich bei der Lektüre der Memoiren Casanovas seine Augen für immer schloss. Hinter dieser Ablehnung stand die Angst, etwas von seiner Selbstkontrolle aufgeben zu müssen. Nur selten war ich Zeuge, wenn auch ihm einmal unanständige, unerwartete Äußerungen aus dem Mund stürzten, etwa bei der Schilderung pornographischer Hefte, die er auf der jüngsten Japanreise kennengelernt hatte und in denen sich, wie er mit Gesten unterstrich, Riesenschwänze austobten. Im übrigen war sein Verhalten, soweit ich es von außen betrachten konnte, auf ängstliche Weise puritanisch. Er schrieb dazu einmal an Michel Leiris: »Ich sage mir jetzt häufig, dass meine Stuttgarter Lehrer mich wohl doch stark beeinflusst haben und dass meine geistige Einstellung protestantisch ist … Nach Fichte soll man zur Identität mit sich selbst gelangen: Ich glaube, dass diese Idee schon recht gut ist. Ich mache mir – wie gesagt – keine Illusionen darüber, welch preußischer Geist in diesem Ideal liegt, aber ich glaube, dass es das einzige Ideal ist, das derzeit noch möglich ist.« Ein Problem für die Galerie stellte in den sechziger Jahren unübersehbar das Spätwerk von Picasso dar. Unter den graphischen Blättern tauchten mehr und mehr laszive und sexuelle Motive auf, die die Galerie den Besuchern nicht zumuten wollte. Jardot organisierte in der Rue Monceau eine Art Peepshow und zeigte die »anstößigen« Blätter in einem Nebenzimmer, in das nur »sichere« Freunde eintreten durften. Es war sicherlich die ungeheuerste Verfälschung, die mit dem späten, vitalistischen Picasso getrieben wurde. Ob ernsthaft in Paris vom Eingreifen der Zensur die Rede sein konnte, schien mir fraglich. Dieser Entschluss, den Künstler zu zensieren, fiel in die Zeit, in der nach dem Tode von Duchamp in Philadelphia erstmals dessen nachgelassenes Environment »Etant donné« vorgestellt wurde. Auch dort wurde, wie in der Galerie Leiris, die Wirkung durch eine Mischung aus Verbot und Libertinage erreicht. Dieses letzte Werk Duchamps, von dem nur zwei, drei Eingeweihte, darunter seine Frau Teeny und Bill Copley wussten, ist für ein einzelnes Augenpaar konzipiert. Der Betrachter steht vor einem mächtigen alten hölzernen Tor, das Duchamp von einer alten Finca aus Katalonien nach New York hatte schaffen lassen. Durch zwei Gucklöcher entdeckt der egoistische Voyeur ein erregendes farbenprächtiges Panorama: Eine nackte Frau – ihr Kopf ist verborgen – liegt mit gespreizten Beinen da. Sie erinnert an Courbets »L’origine du monde«, das damals noch, unter einer graphischen Abbreviatur André Massons versteckt, in der Wohnung von Lacan in der Rue de Lille hing. Auch das Phantasma der »Femme 100 têtes« Max Ernsts, George Batailles Zeitschrift Acéphale , in der die Rede davon ist, dass die Menschheit genug davon habe, als Kopf für das Universum herzuhalten, gehörten zu den Allusionen, die der Betrachter bei Duchamp entdecken durfte. Dahinter steht die von Nietzsche inspirierte Auflehnung gegen
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