Mein Glueck
Vernunft und Aufklärung bei Bataille. Auch der Hinweis bei Brecht, ihm reiche ein Stück von ihr, lässt sich für diese erotische Feineinstellung heranziehen. Hier, im Spätwerk Picassos, und in Duchamps nachgelassenem Panorama, das man im Moment, da es enthüllt wurde, für das Manifest des Hyperrealismus halten konnte und das seitdem ein ikonographisches Hauptthema der zeitgenössischen Kunst wurde, lässt sich bereits eine Hinwendung zu Sex und Gender ausmachen.
In der ersten Ausstellung, die ich in der Galerie Louise Leiris sehen konnte, waren aus Anlass der fünfzigjährigen Geschichte des Verlegers Kahnweiler alle bibliophilen Bücher zu sehen, die seit 1909 mit seinem Logo, der Abbildung zweier Muscheln, auf dem Umschlag erschienen waren. Die zwei Muscheln, die »coquilles«, die André Derain für den Verleger in Holz geschnitten hatte, meinten in der hier verwendeten Bedeutung »Druckfehler«. Und mehr als zwei Verstöße gegen die Orthographie oder gegen die typographischen Gesetze, das war die Forderung Kahnweilers, sollte sich kein Verleger in einer Publikation erlauben dürfen. Dahinter standen Sorgfalt und nicht zuletzt ein starkes Selbstbewusstsein. In der Galerie waren sie ausgebreitet, die fabelhaften Rendezvous, zu denen der Verleger und Kunsthändler von früh an Maler und Dichter veranlasst hatte. In seiner Edition brachte er ausschließlich unveröffentlichte Texte heraus. Und ein Künstler der Galerie steuerte jeweils die Illustrationen bei. Den Anfang der Serie machte Apollinaires L’Enchanteur pourrissant . Es war übrigens die erste Arbeit, die der Dichter publizieren konnte. Kahnweiler war stolz auf darauf, als frühester Verleger von Apollinaire gelten zu dürfen. Derain hatte den Text mit Holzschnitten versehen – und der Holzschnitt galt in der Nachfolge Ambroise Vollards damals als das aktuellste und avancierteste Medium der Bibliophilie. Picassos Radierungen zu Max Jacobs Saint Matorel und weitere legendäre Bücher schlossen sich an und sorgten dafür, dem Tiefdruck, der Nervosität der Kaltnadel einen Platz zu schaffen. Ein völlig neuer Ton tauchte dabei auf. Von Anfang an reichte der Beitrag Picassos weit über die Erwartung an eine Buchillustration hinaus. Dieser Zusammenprall von Text und Bild entsprach dem, was der Verleger in seiner Ästhetik zu verfechten begann, dass nämlich der Kubismus eine völlig neue Bildsprache einführe, die nicht abbilde, sondern deren Lektüre es erst zu lernen gelte. Mit spontaner Rezeption war es nicht getan.
Kahnweiler, der mich, den jungen Deutschen, neugierig und darüber hinaus ausnehmend freundlich empfing, stellte mich anderen Gästen und Freunden vor. Und er brachte mich bei diesem ersten Besuch sofort mit Michel Leiris, seinem »Schwager«, zusammen. Er sei einer der bedeutendsten lebenden Schriftsteller Frankreichs, sagte mir der Kunsthändler, der auf mehr Entdeckungen stolz sein konnte als jeder andere. Ich hatte damals noch nichts von Leiris in den Händen gehabt. L’Afrique phantôme , das minutiöse Logbuch der zweijährigen Forschungsreise Dakar-Djibouti unter der Leitung von Marcel Griaule, an welcher der Ethnologe Anfang der dreißiger Jahre teilgenommen hatte, gehört zu den Erfahrungsberichten, die dazu zwangen, Kolonialismus und eurozentrische Rechthaberei zu überwinden. Es war kein Buch, das Abenteuer schilderte, sondern der kühle Bericht von einer gefährlichen und unbequemen Reise. Nur am Rande kam der Autor selbst vor. Die persönliche Stimmung musste im Unterschied zur selbstzerfleischenden Beichte, die sonst die Texte Leiris regiert, in den Hintergrund treten. Im übrigen war Leiris ein schüchterner Mann, ein Antiheld, der keineswegs seine Mitwirkung an dieser berühmten Expedition in den Vordergrund zu rücken suchte. Offensichtlich tat es ihm wohl, eine Phase seines Lebens in einem wissenschaftlichen Bericht unterzubringen. Wir treffen in diesem Buch schon auf den Argwohn des müden Europäers gegenüber dem Explorateur, den Lévi-Strauss in Tristes Tropiques zum depressiven Thema seiner Erkundigungen im brasilianischen Hochland zwischen dem Rio Paraguay und dem Amazonas bei den Bororo im Regenwald machen sollte. Niemand hätte Leiris die Strapazen einer solch langen, entbehrungsreichen Reise quer durch Äquatorialafrika zugetraut. Vielleicht war er deshalb so glücklich, als allerletzte Lektüre eine Zusammenfassung all dessen, was mit Mut und Geheimnis zu tun hatte, Les trois mousquetaires von Alexandre
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